"Pius XII. war ein Feigling"

Am 12. Dezember 1942 sendete der Bischof von Riga ein Telegramm an den Papst: „Fast alle Juden werden jetzt getötet.“ (ADSS 448). In einem Vermerk des vatikanischen Staatssekretärs vom 5. Mai 1943 heißt es: „In Polonia stavano, prima della Guerra, circa 4.500.000 di ebrei; neppure 100.000. (…) Speciali campi di morti vicino a Lublino (Treblinka), (…) dove finirebbe sotto l’azione di gas’ („In Polen waren es vor dem Krieg über 4.500.000 Juden, nun nicht einmal 100.000. (...) auf Vernichtung spezialisierte Sonderlager in der Nähe von Lublin (Treblinka), (...), wo Gas eingesetzt werden soll.“, ADSS 174). Der Papst hat dies nie kommentiert. Er ist der Massenvernichtung der Juden nie entgegengetreten.

Wie schätzen sie das ein: Stimmt es, dass ein Protest des Papstes von vorneherein aussichtslos gewesen wäre und die Lage der Juden eher verschlechtert hätte?

Der Papst war die höchste moralische Autorität seiner Zeit. Die Katholiken gehorchten ihm. Dass ein Protest des Papstes das Massaker verlangsamt hätte, war für viele religiöse und weltliche Führer sicher. Dies geht auch aus den Actes et Documents hervor. In einem Telegramm des polnischen Botschafters im Vatikan vom 27. August 1942 heißt es: „La voix du Saint Père, s’élevant en faveur de la Pologne, ne saurrait aggraver la situation des Polonais, mais au contraire, elle pourrait freiner la fureur des Allemands, ou – au moins – de certains Allemands.“ („Die Stimme des Heiligen Vaters, die sich zugunsten Polens erhebt, verschlechtert nicht die Situation der Polen, sondern im Gegenteil, es könnte die Wut der Deutschen dämpfen, oder – zumindest – einiger Deutscher“, ADSS 449). Ein Protest der Papst hätte viele Leben retten können.

Denken Sie nur an den ungarischen Holocaust. Nachdem der US-Präsident Roosevelt an den Heiligen Stuhl appelliert hatte, öffentlich oder zumindest privat zu protestieren, sandte Pius XII. am 25. Juni 1944 ein persönliches Telegramm an Horthy, um gegen die Abschiebung von „unglücklichen Menschen wegen ihrer Nationalität oder Rasse (...) zu protestieren, weil unsere Pflicht verlangt, alle Menschen ohne Ausnahme in Liebe zu umarmen. Darum richte ich an Eure Exzellenz einen persönlichen Appell (...) mit der Gewissheit, dass Ihre Exzellenz alles unternehmen wird, um diesen bedauernswerten Menschen weiter Kummer und Leid zu ersparen.“ Beachten Sie, dass der Papst erneut das Wort „Juden“ vermeidet und die Vernichtung, die Nazis, Hitler oder die deutschen Mörder nicht erwähnt.

Die Demarche des Papstes verfehlte ihre Wirkung nicht. Am 1. Juli 1944 antwortete Horthy dem Papst mit folgendem Text: „Eure Heiligkeit kann sich darauf verlassen, dass ich alles in meiner Macht stehende tue, damit die christlichen und menschlichen Prinzipien eingehalten werden.“ Horthy ließ am 6. Juli 1944 die Deportationen zum Ärger der Deutschen stoppen. Das Auftreten des Papstes hatte also Erfolg. Es bleibt aber die quälende Frage, warum er so lange mit einem solchen Vorstoß gewartet hat, denn zu diesem Zeitpunkt waren schon zwei Drittel der ungarischen Juden deportiert.
 

In Ihrem Buch betrachten sie auch, wie sich die katholische Kirche in der Nachkriegszeit mit ihrer Rolle auseinandersetzte. In einem Kapitel beschreiben Sie, wie katholische Einrichtungen die Herausgabe ihnen anvertrauter jüdischer Kinder an deren überlebende Angehörige verweigern. Lassen sich für ein solches Verhalten andere Erklärungen als ein tief sitzender Antijudaismus finden?

Die Richtlinie von Pius XII., getaufte jüdische Kinder nicht zurückzugeben, war mit Blick auf die Geschichte der Kirche keine Ausnahme. Giovanni Maria Mastai-Feretti, von 1846 bis 1878 Papst unter dem Namen Pius IX., machte vor allem Furore durch die Dogmen der Unfehlbarkeit des Papstes und der Unbefleckten Empfängnis Marias. Weniger bekannt ist, dass er am 23. Juni 1858 Edgardo Mortara, einen sechs Jahre alten jüdischen Jungen, durch die Polizei von Bologna, das damals zum Kirchenstaat gehörte, aus dessen Familie entführen ließ. Der Grund war eher bizarr: Als Edgardo eines Tages ernsthaft erkrankt war, hatte die katholische Haushälterin das Kind ohne Wissen der Eltern getauft. Normalerweise können das nur Priester, aber im Fall von höherer Gewalt wird eine derartige Nottaufe akzeptiert. Nun war das Kind aus Sicht der katholischen Kirche ein Katholik. Eine der antijüdischen Verordnungen dieser Zeit besagte, dass es jüdischen Eltern verboten war, katholische Kinder zu erziehen. Es wurde daher beschlossen, Edgardo gewaltsam zu entführen und dem Vatikan zu übergeben, wo er eine katholische Erziehung bekam. Die Eltern baten vergeblich um ihr Kind. Es folgte ein weltweiter Protest, dem sich sogar der französische Kaiser Napoleon III. und der österreichischen Kaiser Franz Joseph I. anschlossen, doch Pius IX. blieb hart und weigerte sich, das Kind zurückzugeben. Die Angelegenheit wurde erneut aktuell anlässlich der Seligsprechung von Pius IX. im Jahr 2000. Die Kirche verteidigte ihre Entscheidung damit, dass die Entführung getaufter Juden, um sie als Katholiken zu erziehen, „zu jener Zeit üblich war“. Pius XII. folgte dieser Ansicht.
 

Was ist Ihr Fazit in Sachen Pius XII.? Hat der Papst geschwiegen? Wie steht er vor der Geschichte da?

Fürsprecher des Papstes verweisen unablässig auf die Weihnachtsbotschaft von 1942, die über Radio Vatikan ausgestrahlt wurde. Seine Rede dauerte etwa eine Dreiviertelstunde – sie umfasste 26 Seiten mit insgesamt 5.000 Worten – und konzentrierte sich vor allem auf religiöse Themen, im Grunde eine lange und langweilige Vorlesung über die katholische Soziallehre, worüber Mussolini später sagte, dass sie voller Plattitüden gewesen sei. Erst am Ende sprach der Papst einen Satz, der im Allgemeinen die Vergehen der Zeit verurteilte: „Die Menschheit ist diese Verheißung (um die Menschheit zu den göttlichen Geboten zurückführen) den Hunderttausenden, die nicht durch eigene Schuld, sondern manchmal nur wegen ihrer Nationalität oder Herkunft zum Tode oder zu langsamem Sterben verurteilt sind, schuldig.“ Der Papst erwähnte die Juden also nicht ausdrücklich, nicht die Polen, nicht die Nazis oder die Lager. Der französische Schriftsteller und Philosoph Albert Camus verstand wie viele andere die Zurückhaltung des Papstes nicht: „Man sagt, dass diese Stimme [Pius XII.] sich hat hören lassen. Aber ich schwöre, dass Millionen von Menschen wie ich sie nie gehört haben.“

Die Präferenz des Vatikans für Faschismus und Nazismus und die ablehnende Haltung gegenüber Kommunismus, Sozialismus und Liberalismus waren der Grund dafür, dass Pius XII. so seltsam still blieb, als die Juden diskriminiert, verfolgt, deportiert und schließlich vernichtet wurden. Die politischen Interessen der katholischen Kirche hatten offenbar Vorrang gegenüber dem Leben von Millionen von Juden in Europa. Die Schoah war der Preis, den die katholische Kirche zu zahlen bereit war, um ihre Position zu schützen und zu stärken. Es waren schließlich die Nazis, welche den Worten Taten folgen ließen und die grausame Logik ihres Antisemitismus durch die systematische Ermordung von sechs Millionen Juden in die Praxis umsetzten. Aber das war nur machbar bei Teilnahme von großen Teilen der katholischen und protestantischen Bevölkerung, sowohl in Deutschland als auch in den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten. Und dies war wiederum nur möglich, weil der Papst und die meisten kirchlichen Behörden beschlossen hatten, über die größte Katastrophe in der Geschichte Europas zu schweigen und sich nie öffentlich gegen Hitler und sein Naziregime zu wenden.

Die katholische Kirche will Pius XII. dennoch heiligsprechen. Das mag auf den ersten Blick nicht so wichtig erscheinen, und schon gar nicht für nicht-religiöse Menschen oder auch nicht für jene gläubigen Katholiken, die nicht mehr kritiklos alles akzeptieren, was der „Stellvertreter Gottes auf Erden“ sagt. Dass die Kirche jemanden heiligspricht, ob geeignet oder nicht, ist eine Sache der Kirche selbst, so wie jeder Verein beschließen kann, eines seiner Mitglieder auszuzeichnen. Aber angesichts des größten Verbrechens in der Geschichte hat eine solche Heiligsprechung natürlich eine weitaus größere Bedeutung. Damit würde offiziell anerkannt, dass Pius XII. in allem, was er tat, nach Gottes Willen gehandelt hat, und dass seine Einstellung vorbildlich gewesen ist. Das war sie aber nicht. „Die Heiligsprechung Pius XII. wäre, wie die von Pius IX. – dem Feind von Juden und Protestanten, von Menschenrechten, Religionsfreiheit, Demokratie und moderner Kultur – eine vatikanische Farce und eine Verleugnung der jüngsten päpstlichen Schuldbekenntnisse“, sagt Hans Küng. Pius XII. hat versagt. Er war kein Heiliger, sondern ein Feigling.

Die Fragen stellte Martin Bauer.

Dirk Verhofstadt: Pius XII. und die Vernichtung der Juden. Übersetzt von Rudy Mondelaers. Aschaffenburg: Alibri 2013. 450 Seiten, Abbildungen, kartoniert, Euro 26.-, ISBN 978-3-86569-076-0

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.

Siehe auch die Rezension des Buches beim hpd.