Erwachsen wird man nur im Diesseits

Erste Menses: von einer Frau zu einer "muslimischen Frau"

Mit dem Titel des Sammelbandes "Erwachsen wird man nur im Diesseits" bezieht sich Zeynelabidin, wie sie ausführt, auf ihren persönlichen Entwicklungsprozess im Kontext ihrer eigenen Biographie. Hierzu seien zwei Textstellen zitiert, die die persönliche Biographie der Autorin beleuchten, aber auch als symptomatisch für viele Mädchen und junge Frauen, die in streng muslimischen Familien heranwachsen, und als symptomatisch für Strenggläubige bezeichnet werden können.

Sie beschreibt ihre Entwicklung als junges Mädchen, bei der die angeblichen Forderungen Gottes maßgeblich waren: "Ich bin nun 52 Jahre alt und hole viele Erfahrungen sowie persönliche Lebenswünsche als 'Unverhüllte' nach. Erfahrungen, die etwas zu tun haben mit dem Erwachsen- werden und dies besonders in meiner Rolle als Frau. Mit zwölf Jahren bekam ich meine 1. Mensis und sollte dann gemäß den religiösen Empfehlungen meine weiblichen Reize mit dem Kopftuch bedecken, Reize, die ich aber damals noch gar nicht kannte. Denn es hieß, Gott bestimme mit Seinen Erlaubnissen und Verboten, wie ich mich kleiden und mit dem anderen Geschlecht kommunizieren solle. Mit der ersten Regelblutung war ich von einem Moment zum anderen eine muslimische Frau geworden.

Als Jugendliche konnte ich die Welt der Männer nur durch die Augen meiner Mutter sehen. Für meine Mutter war es eine Frage des Anstands, keine Freundschaften mit Jungs zu haben. Auch jeglicher Körperkontakt mit ihnen war mir nicht erlaubt. Mein damaliges Leben zeichnete sich durch gedanklich kontrollierte Geschlechtertrennung aus, was mich bis in mein Innerstes tief geprägt hat. Die menschliche und vielfältige Gefühls- und Gedankenwelt von Männern, vor denen ich mich mit meiner Verhüllung schützen sollte, blieb mir deshalb weitgehend verschlossen. Meine uniformartigen, reizneutralen und den ganzen Körper rundum verhüllenden Gewänder entwickelten sich mit der Zeit zu einem festen Bestandteil meines Alltags und dienten als praktischer Distanzhalter zum anderen Geschlecht. Was war das für ein fataler Irrtum, der sich auf meine Entwicklung auswirken musste.“

Verantwortung für das eigene Leben

Emel Zeynelabidin fordert die Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben, die Erarbeitung von "Problemlösungen in Eigenverantwortung" und eine Abkehr von der bei Religiösen verbreiteten Praxis, anstelle einer Eigenverantwortung Gottes Eingreifen zu beschwören oder den Teufel zum Sündenbock zu machen: "...im Kern des Erwachsenseins, so wage ich zu behaupten, steht für jeden das Erlangen einer Verantwortung für sich selbst, um seine Freuden und Sorgen mit anderen teilen zu können und nicht etwa andere dafür verantwortlich machen zu müssen. Erwachsensein bedeutet für mich, das permanente Streben nach Reife, die zu Selbstverantwortung und größtmöglicher Unabhängigkeit führt. Einen Erwachsenen macht aus, dass er seine Probleme ernst nehmen und nach Ursachen forschen kann. Bei der Vielfalt an Möglichkeiten, die in unserem Zeitalter diesbezüglich geboten werden, wundere ich mich deshalb darüber, dass solche Erwachsene, die sich stark über ihre Religionszugehörigkeit definieren, bei Konflikten immer wieder Zuflucht bei Gott als Richter, oder beim Teufel als Sündenbock suchen. Wir sollten unsere Probleme in Eigenverantwortung selber lösen, wenn wir uns entwickeln und erwachsen werden wollen!"

Lesenswert sind auch die Überlegungen von Emel Zeynelabidin zur Ausgestaltung eines islamischen Religionsunterrichts, denen zugrunde liegt, dass sie die Vorstellung eines strafenden Gottes ablehnt. Sie plädiert für eine "Klärung des Gottesbildes".

Religionen sollen Verantwortung für psychische Schäden übernehmen

Von herausragender Bedeutung aber ist ihre Forderung: "Es wird Zeit, dass Erwachsene für die psychischen Schäden, die sie mit dem Bild eines strafenden Gottes angerichtet haben, Verantwortung übernehmen."

Emel Zeynelabidin orientiert damit – auf dem Hintergrund ihres Gottesbildes, wonach Gott "Barmherzige Intelligenz in Vollkommenheit" ist –, jenseits der in den letzten Jahren bekanntgewordenen und mit körperlicher Einwirkung einhergegangenen Missbrauchsfälle, auf die Bekämpfung der einer Religion bereits aufgrund der Drohungen mit Hölle, Strafe, Vergeltung oder ewiger Gottesferne inhärenten menschenzerstörenden Potentiale. Es ist von Bedeutung, dass eine solche Forderung erhoben wird, die nicht nur auf eine Religion zielt und mit der das Missbrauchsverhalten aufgrund religiöser Indoktrination gegenüber Kindern und Heranwachsenden thematisiert wird. Es ist Zeit, sich hiermit auch öffentlich auseinander zu setzen. Bislang haben die aufgrund religiöser Indoktrination psychisch beeinträchtigten Menschen in Deutschland keine Stimme und keine Lobby.

Die Ausführungen und Überlegungen von Emel Zeynelabidin haben eine Bedeutung über die muslimische Community hinaus. Sie sind es wert, in jeglicher Debatte über Religion und deren Bedeutung in der modernen deutschen Gesellschaft reflektiert zu werden.

 


Emel Zeynelabidin - Erwachsen wird man nur im Diesseits, Verlag 3.0 Zsolt Majsai ISBN: 3943138518,