Mauern und Grenzen

Israel und Palästina

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Abu Dis von Jerusalem aus gesehen, Foto: Zero (CC-BY-SA-3.0)

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Abu Dis von Jerusalem aus gesehen, Foto: Zero (CC-BY-SA-3.0)

BERLIN. (hpd) Anlässlich des 23. Jahrestages der Deutschen Einheit möchte die HPD-Redaktion über mehrere noch bestehende Mauern bzw. ungewöhnlich stark gesicherte Grenzen berichten. In diesem Zusammenhang veröffentlicht der hpd exlusiv einen Ausschnitt aus dem noch unveröffentlichtem Buch von Andreas Altmann.

An der Green Line

Weiter nach Westen, weiter nach Qalqiliya, knapp vierzig Minuten Fahrt. Die Stadt liegt direkt an der Grenze zu Israel, an der green line. Der Ort ist eine Sensation, einmalig in der Welt: Er wurde vollkommen eingemauert, ist vollkommen – bis auf eine Straße Richtung Osten – von neun Meter hohem Beton umzingelt. Wobei, wie so oft, der 1967 festgelegte Grenzverlauf nicht respektiert wurde, sondern wieder einmal weit in palästinensisches Gebiet hineinreicht. Mit Hochspannungszaun darüber, mit Wachtürmen und Flutlichtstrahlern. Aus „Sicherheitsgründen“, was sonst. Denn hinter der Mauer liegen die jüdischen Siedlungen. So verfügen viele der hiesigen Bauern über keinen Zugang mehr zu ihren Feldern, so haben die meisten der 45 000 Einwohner nie das nur fünfzehn Kilometer entfernte Mittelmeer gesehen.

Das Zentrum der Stadt ist still, freitagsstill. Ich nehme ein Taxi, um an die Stadtgrenze zu fahren, an die Mauer, irgendwo. Zweihundert Meter davor lässt mich der Fahrer aussteigen, näher will er nicht ran. Ich verstecke mein Gepäck im Gebüsch und gehe los. Ich gehe so lange, bis ich den Beton berühre, gehe entlang, direkt unter einem Wachturm vorbei. Mit Blendglas, so dass ich nicht sehen kann, wer mich sieht. Wieder die leichte Beunruhigung, dass ich fotografiert werde. Denn wer hier entlangstreicht, muss ein Feind Israels sein. Sicher ist, dass ich jemand bin, der nie fassen wird, wie weit der Aberwitz bereits fortgeschritten ist.

Viele Graffiti stehen hier, „We are friends, not enemies“ (ein Zitat von Abraham Lincoln) und „Free Palestine“ und „ Israël m’a tué“ und „History hates walls“ und „Paléstine vivra, Paléstine vaincra“ und „This wall will fall“. Ich finde keine Hasssprüche, kein „Israel verrecke“, kein „Ins Meer mit den Juden“, nein, eher traurige Sätze, eher verzweifelt siegesgewisse.

Als ich zurückgehe, kommt mir ein Mann auf einem Fahrrad entgegen. Ich frage ihn, was er empfindet, wie er die Situation einschätzt. Und er sagt, eher unbeschwert: „Die Mauer ist gut, sie verhindert, dass die Juden herüberkommen.“ Er meint das nicht rassistisch oder sarkastisch. Wie das folgende Gespräch zeigt, will er sagen: Hier sind wir sicher, mehr Land werden uns die Siedler nicht stehlen! Auf die Frage nach der Zukunft seufzt Qasim: „Ach, schon vor zwanzig Jahren hieß es, morgen haben wir Frieden.“

Ich frage den Automechaniker, was ich hier in Qalqiliya – seiner Burg, deren Befestigungen von den Feinden errichtet wurden – sehen könnte. Und er redet von einem Zoo, den sie hier hätten, dem größten in Palästina. Ich hole meinen Rucksack aus dem Gestrüpp und winke einem Taxi.

Feiner Zoo, sauber. Und viele Kinder, die Freude haben. Das soll heute zählen, ihr Lachen, ihr Staunen. Ich selbst mag keine „Tiergärten“, sie sind eher Zuchthäuser für Lebewesen, die lieber wild und frei wären. Nun, die Ironie ist nicht zu übersehen: In einer eingemauerten Stadt, die sich in einem eingemauerten Land befindet, schauen die Eingemauerten auf Tiere, die in einem nach allen vier Seiten vergitterten Käfig sitzen.

Ein Wasserstrahl für den Grizzly. Die meisten Tiere bewegen sich eher apathisch, viele sitzen und rühren sich nicht oder schlafen, sicher der Hitze wegen. Selbst die Schlangen liegen gekringelt im schattigen Eck. Nur der Pfau spreizt sich. Ich liebe diese Bewegung, sie sagt uns allen: Schaut, was immer passiert, ich bin schön und ihr sollt sehen, wie schön ich bin! Das ist sein Zweck in der Welt: schön zu sein und uns damit zu erfreuen. Es wird noch heiterer. Eine Henne verirrt sich neben den Pfau und zum ersten Mal fällt mir auf, wie unattraktiv dieses Federvieh ist. Weil der andere so funkelt. Soll einer sagen, die Welt ist gerecht.

Erstaunlicher Zoo. In einem Flachbau wird Biologie unterrichtet, sogar die des Menschen. Hinter Glasscheiben sieht man tatsächlich (gezeichnete) Geschlechtsteile, ja, noch revolutionärer: eine ganze nackte Frau ist zu besichtigen. Nicht in echt, aber in rosa Kunststoff. Doch, das ist ein Fortschritt: Wenn die andere Hälfte der Menschheit auch vorkommt, eben nicht als schwarze Kutte, die verschreckt Vorüberhuscht, wenn sie Neugierde auslöst und diese Neugierde hinterfragt werden darf. Ich spähe aus meinen Augenwinkeln und sehe, dass die Nackte, selbst wenn sie aus PVC ist, enormes Interesse bei den Anwesenden hervorruft. Ja, die Frauen, sie sind die Schönsten unter uns Säugetieren. Auch in Qalqiliya.

Die Tragödie Palästinas

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Wie gehe ich mit den Informationen um, die ich höre, die ich sehe? Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand die Tragödie Palästinas versteht, ohne hier gewesen zu sein, mittendrin. Ohne den Beton angefasst, ohne die Ausweglosigkeit eines versperrten Lebens beobachtet zu haben, ohne die Erniedrigungen, die täglichen. Israel kommt mir wie ein guter Freund vor, den ich dabei ertappe, wie er schreckliche Dinge tut. Wie bei anderen Freunden frage ich mich, ob ich jetzt von ihm weggehe und die Freundschaft kündige. Weil ich seine schwerwiegenden Fehler nicht mehr hinnehmen will. Oder: Werfe ich mich auf die Knie und flehe ihn an, von seinen Schandtaten zu lassen? Denn keiner soll die Realität aus den Augen verlieren: An jedem – ja, an jedem – Tag werden Siedlerhäuser auf nicht-israelischem Gebiet errichtet und alle 24 Stunden gehören den Palästinensern, den Inhabern dieses Landes, ein paar Hektar Heimat weniger.

Welches Volk unter der Sonne würde sich nicht dagegen wehren? Und wäre es mit Gewalt. Der ist nicht von dieser Welt, den das nicht anrührte. Wer würde nicht aufschreien, wenn er mit mitansehen müsste, wie das, was er innig liebt, verschwindet? Stetig, ohne das geringste Zeichen von Besinnung auf Seiten der Raubritter. Noch dazu, wenn der Bestohlene – zumindest in Form eines Lippenbekenntnisses – von der Staatengemeinschaft Recht bekommt, er immer wieder nachlesen kann, dass alles, tatsächlich alles, was Israel in dem besetzten Gebiet unternimmt, gegen internationales Recht – Völkerrecht, Haager Konventionen, Genfer Konvention und und und – verstößt, sprich, die Besatzung zuerst einmal die permanente Missachtung aller zwischenstaatlicher Vereinbarungen ist. „Das Sicherheitsbedürfnis Israels muss respektiert werden“, leiern dann automatisch jene, die gern über all das hinwegsehen. Interessant diese Logik, nicht?: Ich züchte mir einen Nachbarn, der mich hasst, weil ich ihn rastlos demütige. Sein Hass trägt folglich zu meiner Sicherheit bei.

Es gab einmal israelische Politiker, die eine Vision hatten. Und Friedensverträge mit Jordanien und Ägypten schlossen. Die seitdem halten, seit über dreißig Jahren. Aber der letzte Hoffnungsträger, Jitzchak Rabin, ist lange tot, von einem jüdischen Fanatiker erschossen, und Benjamin Netanjahu – er befeuerte Mitt Romney als Kandidat in den letzten US-Wahlen – ist ein Typ, den mir ein israelischer Bekannter, zweifellos ein „selfhating jew“, in einer Mail so beschrieb: „Stell dir vor, unser Ministerpräsident hätte 1994 die ersten freien Wahlen in Südafrika gewonnen. Netanjahu statt Mandela! Könnte man noch die Blutbäder nachzählen, voll mit weißem und schwarzem Blut, die seine Politik der Unversöhnlichkeit ausgelöst hätte?“

Fraglos wünsche ich mir, gerade als Deutscher, eine Lösung des Konflikts. Annehmbar für beide Seiten. Weil mein Land Mitschuld an der Situation hat. Hätte es keinen Holocaust gegeben, wäre es zu keiner UN-Resolution 181 gekommen, die der jüdischen Diaspora 1947 dieses Gebiet im Nahen Osten zuwies (ich vereinfache, aber das war der Hauptgrund). Und den „palästinensischen Arabern“ den anderen Teil zuteilte. Von Anfang an waren zwei (2) Staaten vorgesehen. Also nochmals, denn daran wird nicht gedeutelt: Israel ist da. Und da soll es bleiben. Und Palästina soll auch sein, nicht minder berechtigt. Dass sich die Palästinenser heute als die „letzten Opfer Hitlers“ betrachten, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Andreas Altmann
 


Das Buch "Verdammtes Land" erscheint voraussichtlich am 10. März 2014 beim Piper-Verlag.

Webseite des Autoren: andreas-altmann.com