WIEN. (hpd) Es gehört zu den besonderen Schauspielen Wiens. Allerheiligen am Zentralfriedhof. Hier mischen sich Volkskultur, Folklore, säkularisierte Reste religiöser Bräuche und die Lust des Wieners am Morbiden.
Gilt doch die "schöne Leich", das prachtvolle Begräbnis, im Volksmund bis heute nahezu als Lebensziel des "echten Wieners". Alljährlich am 1. November scheint dieses Klischee Wirklichkeit zu werden.
Es sind buchstäblich Zehntausende, die auch heuer herpilgern. Sonderlich traurig schaut niemand drein. Im Hintergrund die Karl-Lueger-Gedächtniskirche beim Tor 2 des Wiener Zentralfriedhofs, dem Haupteingang.
Die Blumenhändler vor dem Eingang machen das Geschäft des Jahres.
Menschen, die das Grab Angehöriger oder von Freunden besuchen, sind heute die Ausnahme.
Hier geht es mehr ums Spektakel. Sei es, dass der Hang des Wieners zum Morbiden so real ist, wie es viele Wienerlieder nahelegen. Sei es, dass alle nachsehen wollen, ob das Klischee Wirklichkeit ist. Besonders beliebt die Promigräber. Etwa von Ludwig van Beethoven oder des ehemaligen Bundeskanzlers Bruno Kreisky (SPÖ).
Der frische Blumenschmuck und die neuen Kerzen am Grab von Nazi-Idol Walter Nowotny sorgen auch heuer für Empörung. Sie stammen nicht nur vom Schwarzen Kreuz, das sich um alle unbetreuten Gräber kümmert sondern auch von Ewiggestrigen.
Die Gräber der Befreier Wiens, der Soldaten der Roten Armee, bilden einen vielsagenden Kontrast. Die roten Nelken vor einem ihrer Denkmäler welken vor sich hin. Die Grabkerzen sind lange ausgebrannt.
Nicht nur intakte Prachtgräber machen den seltsamen Charme des Wiener Zentralfriedhofs aus. Hier verwittert ein Mausoleum vor sich hin. Wenn jemand Bedarf hat – es steht zum Verkauf.
Leben gibt es hier reichlich. Das bezeugt ein Vogelhäuschen an einer ruhigeren Ecke.
Auch für die Bedürfnisse der lebenden Menschen ist gesorgt.
Nur die Friedhofsbuslinie fährt heute nicht. Zu Allerheiligen ist Ruhetag – am einzigen Tag des Jahres. Diese Touristen aus Bayern wissen das noch nicht.
Draußen geht's lustig zu. Würstelstände, Süßigkeitenverkäufer und Maronibrater versorgen die Besucher mit dem Notwendigsten. Dem Beobachter kommt eine Zeile aus einem Wiener Lied in den Sinn: Der Tod, der muss ein Wiener sein.
Christoph Baumgarten