Die Evolution der Phantasie

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Professor Thomas Junker, Fotos: Thomas Wessely

FRANKFURT/M. (hpd/sh) Am 1. November 2013 hielt der Wissenschaftshistoriker Prof. Dr. Thomas Junker einen Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe der Säkularen Humanisten - Freunde der GBS (in Zusammenarbeit mit DiKOM e.V.) im Saalbau Bornheim, um sein neues Buch zur Evolution der Phantasie vorzustellen.

Bericht und Kommentar von Jochen Beck

Professor Thomas Junker, der auch dem Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung angehört, ist den Eingeweihten der Szene sicher durch folgende Veröffentlichungen bekannt:

Der Darwin-Code (gemeinsam mit Dr. Sabine Paul), Die Evolution des Menschen, Geschichte der Biologie, Die 101 wichtigsten Fragen: Evolution.

Des Weiteren hat er sich einen Namen durch die Herausgeberschaft zur ältesten deutschen Ausgabe von Darwins Hauptwerk "Die Entstehung der Arten" gemacht.

Die allermeisten Menschen verbinden die Evolution wohl nur mit der Herausbildung körperlicher Eigenschaften einer Lebensform. Der Wahlspruch "Evolution statt Schöpfung" ergibt für viele keinen Sinn, weil man sich nicht bewusst macht, dass in einem konsequenten naturwissenschaftlichen Weltbild auch die Entstehung des Universums das Ergebnis einer Evolution darstellt (i.e. der kosmologischen Evolution). Ebenso wenig ist manchen klar, dass die Entstehung von Geist und Seele Resultate der biologischen Evolution sein müssen, da diese Konstruktionsleistungen des Gehirns sind. Die offizielle Lehre der Katholischen Kirche behauptet sogar bis heute, dass lediglich der menschliche Körper aus nichtmenschlichen tierischen Vorfahren entstanden sei. Der Mensch hingegen sei aber noch mit einer von Gott geschaffenen, immateriellen unsterblichen Seele ausgestattet, womit sich ein weiteres Mal  der zutiefst abergläubische Charakter dieser antiken Religion zeigt.

Wenn die Phantasie und die Neigung, dieselbe in Form von Kunst zum Ausdruck zu bringen beziehungsweise zur Kenntnis zu nehmen, ein Resultat der biologischen Evolution sind, müssen diese über einen Selektionsvorteil verfügen. Dieses Thema wurde bereits in den oben aufgeführten Schriften behandelt oder angedeutet. Junkers neues Buch greift diesen Faden auf und vertieft ihn. 

Der Referent skizzierte seine Aussagen wie folgt:

  • "Kunst" wird von ihm nicht im Sinne der Definition eines modernen Kunsttheoretikers verstanden, sondern schlicht und einfach als die Zusammenfassung von Ausdrucksformen wie Malerei, Literatur, Musik, Dramatik, Tanz und Bildhauerei. Diese lassen sich nach Kategorien wie Hoch-, Populär- und Trivialkunst differenzieren. Dieser Kunstbegriff ist gewissermaßen qualitativ wertfrei.
  • Ein Selektionsvorteil der Ausprägung dieser kulturellen Fähigkeiten liegt zum einen in der Signalfunktion für die sexuelle Selektion. Denn es können handwerkliche und geistige Fähigkeiten signalisiert werden.
  • Dabei findet auch eine Verschwendung von Ressourcen statt, denn es werden  Gegenstände hergestellt und Handlungen begangen, die nicht einem unmittelbaren Zweck dienen wie etwa der Anfertigung eines Werkzeugs oder der Ausübung der Jagd. Man kann dies evolutionsbiologisch als Fitnessindikator verstehen wie ein Hirschgeweih oder das Gefieder eines Pfaus. Der Kabarettist Vince Ebert befand hierzu, der rote Kamm eines Hahns würde schlechterdings signalisieren: "Nehmt mich, ich habe keine Würmer." Aus dem gleichen Grund würde er auf der Bühne stehen.
  • Zum anderen ist die Kunst eine spezielle Sprache des Menschen. Sie ermöglicht  die Verständigung über unbewusste Gefühle und Wünsche, übt den Umgang mit sozialen Konflikten spielerisch und speichert dieses Wissen. Diese Funktion ist natürlich für eine Spezies wie den Menschen sehr wichtig, da es sich bei ihm um eine Lebensform handelt, die bereits in ihrer naturwüchsigen Lebensweise (Jäger und Sammler) in sozialen Verbänden von 30 oder auch 150 Individuen zusammenlebte. Komplexere Verbände, wie sie sich im Rahmen der kulturellen Evolution entwickelten (Stamm, Stadtstaat, Flächenstaat, Imperium, …), können natürlich erst recht nicht auf diese Spezialsprache verzichten.
  • Kunst muss nicht unbedingt schön sein. Bei der expressionistischen Malerei (Kunst des seelischen Ausdrucks) verbietet es sich sogar, wenn zum Beispiel Angst oder die Schrecken des Krieges thematisiert werden sollen.

Einer der von Junker aufgeführten Kritiker der hier skizzierten Auffassung ist Winfried Menninghaus, der darauf hinweist, dass keine Gründe vorlägen, von einem besonderen sexuellen Reproduktionserfolg großer Künstler auszugehen. Hierzu lässt sich einwenden, dass die extreme Spezialisierung neuzeitlicher Künstler nicht für die enormen Zeiträume der hominiden Evolution repräsentativ sind. Der Referent sah den Selektionsvorteil für die Kunst eher allgemein, aber nicht unbedingt für den Hochkünstler gegenüber dem Populärkünstler.

Eine weitere Herausforderung für seine Thesen sieht Junker in dem Vorhandensein der modernen Kunst, die überhaupt keine großen Fähigkeiten zu erfordern scheint und trotzdem keine Verschwendung von Energien darstellt. Solche sogenannten Readymades (beispielsweise ein leicht verändertes Urinal, welches Duchamps als Kunst deklarierte) erklärt Junker im Einklang mit dem Kunsttheoretiker Hans Zitko als Objekte, die ihre Akzeptanz parasitär der Nähe zu echten Kunstwerken oder der aufwendigen Architektur des betreffenden Museums verdanken. Ohne die Einbindung in einen verschwenderischen Kontext ist diese Nische der Kunstwelt nicht überlebensfähig.

Ich selbst möchte hierzu anmerken, dass bei diesen Readymades vermutlich auch ein Snob-Effekt im Spiel ist. Diesen Begriff kenne ich eigentlich aus der Wirtschaftswissenschaft. Man spricht davon bei einem atypischen Verlauf der Nachfragekurve, wenn die Nachfrage mit dem Preis steigt. Dank eines Readymades verhilft man sich zu dem Gefühl, zu einer elitären Minderheit zu gehören, indem man auf eine Art Kunst hinzielt, die vermutlich kaum jemand als solche nachvollziehen kann. Die Mehrheit nimmt dies hin, frei nach der märchenhaften Erzählung "Des Kaisers neue Kleider".

Nach Einschätzung des Referenten sind Readymades kein ausschließliches Phänomen der neueren Zeit. Ein älteres Beispiel ist seiner Meinung nach die Hostie, die im katholischen Ritus offenkundig nur in einer prunkvollen Umgebung als Leib Jesu Christi wahrgenommen wird. Man denke hierbei nur an die kostbaren Monstranzen (Zeigegeräte für die Oblate) und Tabernakel (Aufbewahrungsschreine). Glaubensgemeinschaften wie die Calvinisten, die auf Schlichtheit setzen, haben ebenso den Status der Abendmahlsspeisen abgewertet, indem sie die Identität mit Leib und Blut Jesu Christi nur symbolisch verstehen.

Nach dem Vortrag fand man wieder in vertrauter Runde im Restaurant zusammen. Dieser Bericht wird dem Vortrag sicher so wenig gerecht wie der Vortrag dem Buch. Wer ausprobieren möchte, ob dem persönlichen Zugang zur Kunst durch die Auseinandersetzung mit biologischen Hintergründen neue Horizonte eröffnet werden, dem sei die Evolution der Phantasie wärmstens empfohlen. Vielleicht wird die eine oder andere Mutter, die dieses Buch liest, Argumente finden, um ihren Kindern zuzureden, den Klavierunterricht an der Musikschule nicht frühzeitig aufzugeben oder sich einmal in der Theater-AG der Schule auszuprobieren.

Jochen Beck

Weitere Informationen: www.saekulare-humanisten.de