Karlheinz Deschner vollendet Gesamtwerk

von Gabriele Röwer

Den größten Teil seines Lebens verbrachte Deschner (geb. 1924) als Streitschriftsteller zurückgezogen am Schreibtisch – „Cordon sanitaire und Angriffsbasis zugleich“. Hier verfasste er, vielfach rezensiert, stets kontrovers, mehrere literatur- und zahlreiche kirchenkritische Bücher, welche, ausgehend von den verkauften, teilweise in zwölf Sprachen übersetzten fünfzig Büchern, über eine Million Leser erreichten. Eine Basis dieser Leserschaft geht zurück auf Deschners Vorträge über moderne amerikanische Literatur in den 50er und 60er Jahren (Amerikahaus deutschlandweit) wie auch auf mehrere zwischen 1957 und 1971 von ihm herausgegebene und eingeleitete, teilweise heftig diskutierte Sammelbände mit Titeln wie „Was halten Sie vom Christentum…?“, „Das Jahrhundert der Barbarei“, „Das Christentum im Urteil seiner Gegner“ oder „Warum ich aus der Kirche ausgetreten bin“, welche entscheidend beitrugen zur Vernetzung von Christentums- und Religionskritikern wie Klaus Ahlheim, Jens Bjœrneboe, Wolfgang Beutin, Saul Friedländer, Friedrich Heer, Hans Henny Jahnn, Hans E. Lampl, Robert Mächler, Friedrich Pzillas, Hermann Raschke, Carl Schneider, Hans Wolffheim, Hans Wollschläger, Gerhard Szczesny und Gerhard Zwerenz. 1977 folgte „Warum ich Christ/Atheist/Agnostiker bin“, worin Karlheinz Deschner, in seinem einzigen, sehr ausführlichen philosophischen Essay überhaupt, seine radikalagnostische Haltung jener des kritischen Christen Friedrich Heer und des Atheisten Joachim Kahl kontrastiert. Mangels Zeit, die seither weitgehend der kritischen Kirchengeschichte gewidmet war, folgte 1990 nur noch die Umfrage „Woran ich glaube“, wiederum initiiert durch Deschners Überzeugung von der Relativität aller Glaubensvorstellungen, dokumentiert in Beiträgen u. a. von Hans Albert, Ernest Bornemann, Hans J. Eysenck, Horst Herrmann, Hubertus Mynarek, Ursula und Johannes Neumann, Uta Ranke-Heinemann, Norbert Hoerster, Jan Philipp Reemtsma, Edzard Reuter, Hermann Josef Schmidt, Dorothee Sölle und Tomi Ungerer.

Diese frühen Vernetzungen säkularer Kräfte durch Deschners kritische Sammelbände sowie das zumeist breite Echo darauf trugen gewiss nicht unwesentlich zu den diversen Zusammenschlüssen von Konfessionslosen bei, auch wenn er selbst, Einzelkämpfer par excellence, keiner dieser Organisationen angehört, mit weitgehender Sympathie indes für ihre Ziele. Die von Herbert Steffen gegründete Giordano Bruno Stiftung, um nur diese hier zu nennen, sieht in Deschners Werk einen ihrer wesentlichen Grundsteine.

Der erste Band von Deschners Hauptwerk mit dem provozierenden Titel „Kriminalgeschichte des Christentums“ wurde 1986, der zehnte Band im März 2013 bei Rowohlt publiziert der bis in die Gegenwart reichende, also gleichsam elfte Band, „Die Politik der Päpste – Vom Niedergang kurialer Macht im 19. Jahrhundert bis zu ihrem Wiedererstarken im Zeitalter der Weltkriege“, wurde soeben mit großem Einsatz von Alibri neu aufgelegt, aktualisiert durch ein Nachwort von Michael Schmidt-Salomon. Die Anfänge aber von Deschners rund 6.000 Seiten umfassendem Opus Magnum reichen bis in die 1950er Jahre zurück. Schon als Schüler hatte er sich durch Schopenhauer und Nietzsche – später folgten Kant und Lichtenberg– dem katholischen Traditionschristentum seiner Steigerwälder Heimat geistig entfremdet. Emotional befreite ihn, nach dem Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte („Denn auf den Grund wollte ich kommen … irgendwo auf den Boden stoßen, und wenn … der Boden … nichts als ein Blutsumpf wäre … bis obenhin.“), die Vertiefung in die Forschungen zur Geschichte des Christentums von den Anfängen bis in die Gegenwart.

Das Ergebnis fünfjähriger Schreibtischfron erschien 1962 unter dem bezeichnenden Titel „Abermals krähte der Hahn“, worin sich das Thema seines gesamten kirchenkritischen Lebenswerks ankündigt. Deschner wird zum Ankläger des Verrats der Ethik des synoptischen Jesus durch die immer mächtiger werdende Kirche, besonders seit Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert, zum Ankläger kontinuierlicher Verkehrung urchristlicher Ideale wie Nächsten- und Feindesliebe, Armut und Pazifismus ins krasse Gegenteil durch kirchliche Potentaten auf dem „Stuhl Petri“. Zumal es diesen, wie Deschner nachweist, so wenig gegeben hat wie, unter anderem, die römische Bischofsliste, die römischen Primatansprüche, die Konstantinische Schenkung, Basis der geistlichen und weltlichen Macht des vatikanischen Imperiums.

Dessen Entwicklung nimmt Deschner in seiner pyramidal gebauten „Kriminalgeschichte des Christentums“ kritisch ins Visier. Besonders ausführlich, da fundamental bedeutsam, wird die Fragwürdigkeit der Ursprünge in den ersten drei Bänden beleuchtet – dogmatische Absicherung (zugunsten des gewaltsam durchgesetzten trinitarischen Christentums) ebenso wie institutionelle Festigung durch massive politische Machtkämpfe der christlichen Herren untereinander. Die Überschrift des Schlusskapitels des 10. Bandes „Armut als Massenphänomen im absolutistischen Zeitalter“ verweist auf ein weiteres zentrales Movens Karlheinz Deschners, Kritiker vatikanischer Kriegspolitik ebenso wie vatikanischen Reichtums, die Mutierung der „Kirche der Armen“ nicht nur zur größten privaten Grundbesitzerin und einflussreichen Kapitalmacht (bis heute), sondern auch, trotz innerkirchlicher Gegenströmungen, zu einem der pompösesten Herrschaftszentren weltweit.