BERLIN. (hpd) Sein Bruder, Ettore Bugatti, baute Autos, Rembrandt Bugatti modellierte Tiere. Rund 300 Skulpturen hatte Rembrandt Bugatti in kaum mehr als 15 Arbeitsjahren geschaffen. Mit 31 nahm er sich angesichts des Elends und der Grausamkeit des Ersten Weltkriegs 1916 das Leben. Die Alte Nationalgalerie in Berlin vereinigt knapp 100 Jahre nach seinem Tod über 80 Werke zur ersten musealen Einzelausstellung des Künstlers.
Im Berliner Zoo hörte ich einmal ein kleines Mädchen vor dem Giraffengehege seine Mutter fragen: “Mama, was gibt es eigentlich mehr auf der Welt – Autos oder Tiere?” Die Mutter antwortete nachdenklich, sichtlich bemüht, ihre Tochter zu beruhigen: “Wenn man alles zusammenzählt, die Vögel, alle Ameisen und auch die Regenwürmer, dann wahrscheinlich immer noch Tiere.” Doch ihre Stimme klang zögerlich. - Ja, deshalb ist Rembrandt Bugattis Schaffen wichtig. Weil er es ganz den heute schon selten Gewordenen widmete. Und für die Kunstgeschichte, weil er ein Moderner war, weitab von jedem Akademismus.
Schon morgens ab sechs stand Rembrandt Bugatti vor den Gehegen des Pariser Zoos Jardin des Plantes. Aufmerksam prägte er sich jede Bewegung der Tiere ein. Wochen brachte er vor immer demselben Gehege zu. Manchmal ließen ihn die Wärter auch in die Käfige hinein. Der kaum Zwanzigjährige hatte die Geduld eines Verhaltensforschers, aber er war ein Künstler. Ein sehr erfolgreicher dazu, dessen Werke bereits seit vier Jahren regelmäßig auf großen Kunstschauen in Europa ausgestellt wurden, obwohl er Autodidakt war.
Nach Paris war der Vater, ein Mailänder Möbeldesigner, mit seiner Frau und seinen drei Kindern 1903 übergesiedelt. Abseits der großen Kunstströmungen, ohne Manifeste und Skandale eröffnete der introvertierte Rembrandt Bugatti schon als sehr junger Mann dort ein eigenes, neues Kapitel der Kunstgeschichte: Er arbeitete als Freiluftbildhauer.
Hatte er seine Modelle, eine Gruppe Kasuare, einen Esel, ein Schakalpärchen, lange genug beobachtet, schuf er seine Skulpturen an nur einem Tag. Die meisten seiner Skulpturen sind eher klein. Weil Bugatti sie vor Ort formte, mussten sie transportabel sein. Die schnelle Arbeitsweise brachte es mit sich, dass die Spuren der gestaltenden Hand auf der Oberfläche deutlich sichtbar blieben.
Ein Windspiel schmiegt sich an ein tapsiges, sitzendes Löwenjunges. Rembrandt Bugatti schuf diese Plastik 1905 im Zoo von Antwerpen, wo er zwischen 1906 und 1914 über Monate die meiste Zeit verbrachte, der Gratiszookarten für Künstler und seiner besonders vielen exotischen Tieren wegen. 1906 duckt sich der schlanke schlappohrige Renner in einer anderen Skulptur vertrauensvoll unter den Bauch zwischen die Hinterläufe des inzwischen erheblich gewachsenen Löwen, der mit gebremster Energie den Kopf gutmütig senkt und nur nervös den Schwanz wie eine Standarte aufrichtet. Damals war es üblich, heranwachsenden Raubtieren oder Menschenaffen Hunde als Gesellschafter mit ins Gehege zu geben. Rembrandt Bugatti verewigte zwei konkrete Tierindividuen, in ganz bestimmten Phasen ihrer Entwicklung. Seine Werke sind ebenso Momentaufnahme wie Portrait.
Genau dies war das Neue an seiner Vorgehensweise. Tiere galten damals als eher niederer Darstellungsgegenstand. Wer sich ihnen widmete, stellte das Artspezifische dar, gern wurden auch Parallelen zwischen tierischem und menschlichem Verhalten gezogen. Oder es interessierte die reine Form. Das einzelne Tier ganz genau zu betrachten, es des Portraits für würdig zu halten, das hatte vorher noch keiner gemacht.
Bugatti zeigt nicht irgendeine Gruppe von Kudu-Antilopen, sondern eine ganz bestimmte Tierfamilie: Bulle, Muttertier und Kitz, die Mutter abgehärmt mit müde gesenktem Kopf und einem verbundenen Hinterlauf, den sie kaum auf den Boden aufzusetzen vermag; doch tröstlich auch: das Kitz berührt zärtlich mit der Schnauze den Kopf des Muttertiers.
Geht man heute um seine Skulpturen herum, entdeckt man, welch vielfältige Motorik in der Haltung eines Tieres in einem Moment stecken. Jede Perspektive lässt einen anderen Aspekt in den Vordergrund treten. Oft erfasst Bugatti eine Bewegung gerade in dem Augenblick, da sie in eine andere übergeht. So ein Känguru im Sprung. Oder eine Giraffe die die schlanken Beine schier unwahrscheinlich weit abspreizt, um mit dem Maul auf den Boden zu gelangen.
Rembrandt Bugattis Neugier ist noch die Neugier der ausgehenden Belle Époque, in der aus Menagerien Zoos wurden. Die Zoos von Paris, Berlin und Antwerpen hatten sich die Verbreitung des Wissens um die Natur, aber auch die Förderung der Kunst ins Programm geschrieben. Es war die Zeit der Welterkundung, ein Stück der fernen Kontinente holte man sich in die Metropolen, die exotische Tiere nun erstmals allen Bevölkerungsschichten erfahrbar machten. Allen voran der Zoo von Antwerpen, der unweit des Hafens lag, über den immer neue Tiere eintrafen – weil sie selten lange überlebten. Bugatti reizte an den Exoten, dass für sie noch keine traditionellen Darstellungsschemata existierten. Ein Pelikan mit einem angezogenen und einem ausgestreckten Flügel zeigt eine ganz neue Asymmetrie. Ein Ameisenbär, der den Kopf an die Brust senkt, bekommt dahingegen eine Silhouette wie ein rollendes Rad. Das neue, alles verändernde Zeitalter steckte eben auch in seiner eigenen Formensprache.
Alte Nationalgalerie: “Rembrandt Bugatti. Der Bildhauer 1884 – 1914”, Museumsinsel, Bodestraße 1 – 3 , 10178 Berlin, bis 27. Juli, Katalog erschienen im Hirmer Verlag München im Museum 29 im Buchhandel 45 Euro.