Wer jüdische und muslimische Kinder schützt, ist pro-semitisch
Er kritisierte vehement, dass ausgerechnet die “Schwächsten” in der Gesellschaft nicht gehört werden und über ihren Kopf hinweg entschieden würde. Der Gesetzgeber habe sich mit dem Gesetz vom Dezember 2012 über elementare Kinderrechte hinweggesetzt. Religionsfreiheit (der Eltern) sei jedoch kein Freibrief zur Genitalbeschneidung Minderjähriger. Unter Hinweis auf die wachsende Zahl von Eltern in der muslimischen und jüdischen Community, die ihre Kinder nicht mehr beschneiden ließen, verwehrte er sich gegen den Vorwurf des Antisemitismus: wer jüdische und muslimische Kinder schütze, könne nur als pro-semitisch bezeichnet werden.
In zwei kurzen Impulsreferaten gab Dr. med. Matthias Schreiber (Kinderchirurg, Schwerpunkt Kinderurologie, Erlangen – Esslingen) einen Überblick über die Situation auf europäischer Ebene und fasste noch einmal die Ereignisse in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zusammen: Im Herbst letzten Jahres hatte die Versammlung eine Resolution ‘Children’s rights of physical integrity’ verabschiedet, die die europäischen Staaten dazu aufrief, stärker und nachhaltiger gegen die Verletzung der Rechte von Kindern vorzugehen. Mit dieser Resolution war die Jungenbeschneidung auf der Ebene des Europarats erstmals ausdrücklich erwähnt worden. Schreibers zweiter Vortrag befasste sich mit dem Begriff der “Komplikationen” und dessen missverständlicher Deutungsmöglichkeiten.
Mit anschaulichem, geradezu schockierendem Bildmaterial stellte er die Bandbreite möglicher negativer Folgen einer Beschneidung vor, die – wenngleich auch aus Sicht medizinischer Laien sofort als schmerzhaft und schädigend zu erkennen – im medizinisch-fachlichen Bereich rhetorisch nicht zwangsläufig als “Komplikationen” gewertet werden müssen. Er nannte als Beispiel den gelegentlich auftretenden Fall, dass nach einer Beschneidung ein mehrteiliger Urinstrahl (in verschiedene Richtungen) den Toilettengang erheblich negativ beeinflusst; da dies aber ohne akute Schmerzen geschehe, werde es nicht als “Komplikation” eingestuft.
Umdenken in medizinischer Forschung und Lehre erforderlich
Dr. Kupferschmid vom BVKJ machte in seinem Vortrag deutlich, dass die meisten der in Deutschland durchgeführten medizinisch nicht nötigen Vorhautamputationen nicht religiös motiviert seien. Pro Jahr handle es sich hochgerechnet um etwa 30.000 Fälle – was (ebenfalls eine überraschende Zahl) einem Kostenpunkt von 9 Millionen Euro pro Jahr entspricht. Den Grund hierfür vermutet Kupferschmid im großen Mangel an Wissen über die Vorhaut und deren Funktion unter der deutschen Ärzteschaft. Hier müsse in medizinischer Forschung und Lehre endlich ein Umdenken stattfinden.
Deutschland: Grundrechte von Kindern achten!
Dr. Jörg Scheinfeld, Dozent für Straf- und Medizinstrafrecht an der Universität Mainz, erörterte verfassungsrechtliche Fragen und stellte die einzelnen Grundrechte von Kindern und Eltern, die in der Beschneidungsdebatte immer wieder genannt worden waren, vor. Er kam in seinem Vortrag “Beschneidungserlaubnis und Verfassungsrecht” zu dem Schluss: “Müssten die Rechte des Kindes der reinen Willkür des anderen (der Eltern) weichen, wären es keine ‘Rechte’”. Auf Seiten des Jungen seien dessen Grundrechte massiv betroffen: das Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG / Art. 1 Abs. 1 GG (insb. das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung), das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG sowie das Recht auf negative Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG).
Durch die Vorhautentfernung werde lebenslang - irreversibel - in das sexuelle Empfinden des Mannes eingegriffen und sein sexuelles Erleben beeinflusst. Entscheidungen hierüber dürfe nur jeder selbst treffen, eine Stellvertretung durch Eltern scheide aus und drücke, wenn sie denn vorgenommen werde nur eine Missachtung der Persönlichkeit des Kindes aus. Im Judentum ist mindestens seit Jahrhunderten betont worden, dass die Beschneidung das sexuelle Verlangen zügelt, was aus religiöser Sicht für wünschenswert gehalten wird.
Die negative Religionsfreiheit ist - so Scheinfeld – betroffen, weil der beschnittene Mann lebenslang mit einem religiösen Identifikationsmerkmal versehen ist; er soll diesen “Stempel” tragen, so heißt es aus religiösen Kreisen (Oberrabbiner Metzger 2012), um zeitlebens und noch am entlegensten Ort daran erinnert zu werden, dass er Jude ist.
Diese Grundrechte des Kindes haben auch die Eltern, denen das Grundrecht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder zusteht, zu beachten. Die Kinder seien, so führte Scheinfeld dann an mehreren Beispielen aus, den elterlichen Wünschen nicht vollständig ausgeliefert. Freiheitsrechte der Eltern in Bezug auf Kindeserziehung und Religionsausübung richten sich gegen den Staat, rechtfertigen aber nicht Eingriffe in die Grundrechte anderer, etwa der eigenen Kinder auf körperliche Unversehrtheit und Religionsfreiheit.
Von nicht unerheblicher Bedeutung sah Scheinfeld auch – gerade im Lichte des vollständigen Verbots der weiblichen Genitalverstümmelung und der umfassenden Strafbarkeit durch den neugefassten § 226a StGB – die eklatante Verletzung des Gleichheitsgebots aus Artikel 3 Abs.1 GG (“Niemand darf aufgrund seines Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden”). Er zeigte den Widerspruch in der geltenden Gesetzeslage an den Paragrafen 226a StGB und 1631 d BGB auf, wonach selbst leichteste Eingriffe bei Mädchen (etwa das Anritzen der äußeren Schamlippen) als Verbrechen verfolgt werden, während der viel weiter gehende Eingriff der vollständigen Entfernung der Penisvorhaut bei Jungen zur Disposition der Eltern steht und den Jungen ohne jeden Schutz lässt.
Maimonides: Beschneidung als Disziplinierungsmaßnahme
Prof. Dr. Tobe Levin (University of Maryland in Europe, Associate W. E. B. Du Bois Institute for African and African American Research – Harvard University, President FORWARD – Germany) - bekannt durch ihren Einsatz gegen weibliche Genitalverstümmelung - stellte in ihrem Vortrag “In angsterfüllten Symmetrien: Essays und Augenzeugenberichte zur weiblichen Genitalverstümmelung und der männlichen Beschneidung” die Phänomene der männlichen und weiblichen Beschneidung hinsichtlich ihrer Rezeption in Wort und Schrift einander gegenüber. Die Gleichsetzung beider lehnt sie bis heute ab, spricht sich jedoch explizit gegen die Jungenbeschneidung aus und schließt sich Maimonides’ These an, dass die Intention der Jungenbeschneidung eine Beschädigung des männlichen Genitales darstelle und als eine Disziplinierungsmaßnahme zu verstehen sei.
Gesellschaftliche Ignoranz der Gewalt gegen Männer
Der Sozialwissenschaftler Dr. Hans-Joachim Lenz stellte in seinem Vortrag “Männliche Beschneidung als sexualisierte Gewalt: Verdeckung der männlichen Verletzungsoffenheit in der Mehrheitsgesellschaft und in rituellen Kontexten – Einblicke aus der Gewaltgeschlechterforschung” die Pilot-Studie “Gewalt gegen Männer” des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2002 – 2004) vor, in der die Jungenbeschneidung bereits thematisch aufgegriffen worden war.
Die Ignoranz gegenüber der in unserer Gesellschaft stark ausgeprägten Gewalt gegen Männer sei umso befremdlicher als Männer tatsächlich wesentlich häufiger Opfer von Gewalt werden als Frauen. Im Rahmen der Studie ergaben sich für die möglichen Formen der Gewalt gegen Männer folgende drei Kategorien: physische, psychische und sexualisierte Gewalt. Lenz nannte einige zentrale Gesichtspunkte, warum die Genitalbeschneidung nicht-einwilligungsfähiger Kinder als sexualisierte Gewalt einzuordnen sei: Das Kind könne nicht zustimmen, der Täter/die Täterin trüge Verantwortung für die Tat, es bestehe ein Machtgefälle zwischen Erwachsenem und Kind und das Vertrauen des Kindes werde ausgenutzt.
“Was für ein Jude, der nicht beschnitten ist ….”
Der Judaist Michael Ingber sprach in seinem Redebeitrag (“Innere und äußere An- und Einsichten bzgl. der Beschneidung von Männern, oder: wie ich Gegner der genitalen Beschneidung und Befürworter der Beschneidung des Herzens’ geworden bin”) über die Beschneidung, wie sie im Judentum praktiziert wird. Wenngleich selbst beschnittener Jude ist Ingber überzeugt von den Argumenten, die gegen eine Genitalbeschneidung Minderjähriger sprechen. Seine Haltung zu diesem Thema entwickelte sich im Rahmen der Vorbereitung einer Stellungnahme in der Auseinandersetzung des Jahres 2012, als er die Argumente (auch die historischen) für eine Beschneidung überprüfte und sich insbesondere mit den Ausführungen von Maimonides beschäftigte. Vor einigen Jahren noch, als seine Tochter ihren ersten Sohn nicht beschneiden ließ, habe er damit Probleme gehabt und gedacht, was das für ein Jude sei, der nicht beschnitten ist. Jetzt habe er seiner Tochter uneingeschränkt zustimmen können, als sie anlässlich der Entscheidung, auch ihren zweiten Sohn nicht zu beschneiden, erklärte: “Wie könnte ich als Mutter meinem Kind so etwas antun.”
Ingber äußerte die Hoffnung, dass die kritischen Stimmen mehr und vernehmlicher werden und warf einen Blick auf die Zahlen in den nordischen Staaten Europas, in denen die Jungenbeschneidung bei den jüdischen Bevölkerungsteilen stark zurückgehe: in Schweden leben heute bereits 40%, in den Niederlanden etwa 30% unbeschnittene Juden. Auch in Israel vergrößere sich die Anzahl von Eltern, die ihre Söhne nicht beschneiden ließen und liege derzeit bei etwa drei Prozent. Intensiviert habe sich die Debatte über alternative Zeremonien eines “Bundes mit Gott” ohne körperliche Eingriffe, diese Zeremonien würden als “Friedensbund” (Brit Shalom) oder “Bund der Vollkommenheit” bezeichnet.
“Warum nicht auch Beschneidungen hinterfragen?”
Gegen Antisemitismusvorwürfe gewandt, sagte Ingber, niemand denke daran, das Jüdischsein infrage zu stellen. Das “Argument” der Beschneidungsbefürworter, die Beschneidung sei für die Identitätsbildung wichtig, nannte er erbärmlich. Er wies auf das religiöse Argument hin, die Beschneidung bereite die Seele für die “Aufnahme des Joches der Gesetze und der Tora” vor, das nicht akzeptabel sei: schließlich werde kaum jemand Transzendenz beim Blick auf seinen beschnittenen Penis verspüren.
Ingber forderte eine kritische Auseinandersetzung mit dem Beschneidungsbrauch. Auch die früheren Positionen von Moses und den Propheten zur Diskriminierung von Frauen und zur Sklaverei etwa seien historisch hinterfragt und geändert worden: “Warum nicht auch Beschneidungen hinterfragen?”