Was ist eine Sekte? Wie definierte man sektenhafte Glaubensgemeinschaften? Grundsätzlich kann man festhalten: Aus der Sicht von vereinnahmenden Gruppen sind – außer natürlich sie selbst – alle anderen Sekten. Es zeigt sich: Der herkömmliche Begriff von Sekten ist längst überholt. Es braucht neue Definitionen.
Der Grund ist einfach: Jede Religionsgemeinschaft reklamiert die spirituelle und religiöse Wahrheit für sich. Das ist ihr Wesen. Außerdem fühlt sie sich von einem Gott oder Guru geführt oder gar auserwählt. Schon dieser Anspruch allein ist problematisch.
Wer ihn erhebt, läuft Gefahr, als Sekte zu enden. Etymologisch bedeutete der Begriff auch "nachfolgen" und "abspalten". Konkret: Anhänger eines religiösen Führers zu sein oder eine Abspaltung von einer traditionellen Glaubensgemeinschaft vollzogen zu haben.
Diese Definitionen sind überholt. Sie treffen zwar auf manche Gemeinschaften nach wie vor zu, doch das Spektrum hat sich stark erweitert, was ich hautnah miterlebte. Hatte ich in den 1970er Jahren etwa 50 Gruppierungen im Archiv, ist ihre Anzahl inzwischen auf rund 1.000 angewachsen. Allen Gruppen ist gemeinsam, dass sie mehr oder weniger sektenhafte Merkmale aufweisen.
Die Bandbreite ist groß, die Variationen sind vielfältig. Ein paar Stichworte: Absolutheitsanspruch, autoritäre Strukturen, Kultfigur, Indoktrination, Abhängigkeit, soziale Kontrolle, mentale Manipulation, "Gehirnwäsche", hohe Geldforderungen ("Spenden"), Uniformität im Denken, Handeln und Fühlen, Radikalisierung, religiöser Übereifer, Sanktionen bei Fehlverhalten, Anpassungsdruck, Missionsdrang, Entfremdung von den anerzogenen oder tradierten religiösen Ideen und vom persönlichen Umfeld, Realitätsverlust, Wesensveränderung usw.
Es gibt aber eine einfachere Möglichkeit, sektenhafte Aspekte einer Gruppe zu entlarven: der Umgang mit den Mitgliedern oder Anhängern. Wenn diese mit Respekt behandelt werden, wenn ihnen die geistige Freiheit bedingungslos zugestanden wird, wenn sie auch als wenig angepasste Gläubige Anerkennung und Zuneigung erhalten, wenn sie aufmüpfig und unbequem sein dürfen, wenn sie den Glauben und die Führungsgremien kritisch hinterfragen können, ohne stigmatisiert und ausgegrenzt zu werden, ist eine Gemeinschaft kaum sektiererisch.
Das heißt im Umkehrschluss: Eine Glaubensgemeinschaft, die eine oder mehrere dieser Kriterien nicht erfüllt, weist sektenhafte Aspekte auf. Wichtig ist auch, dass Glaubensgemeinschaften die Gefahr der eigenen Sektenanfälligkeit erkennen.
Denn der Grat zwischen aufbauender Spiritualität und religiöser Verblendung, die oft in die radikale Frömmigkeit und zum Fanatismus führt, ist schmal. Schließlich geht es um das Höchste und das Letzte: die Bestimmung des Menschen auf alle Zeiten. Um die Ewigkeit. Solche übermenschlichen Aspekte verkraften wir fragilen Menschen selten gut.
Die meisten Religionsgemeinschaften haben eine Schlagseite
Das bringt uns zum Fazit, dass es kaum eine Glaubensgemeinschaft gibt, die hinter allen Aspekten ein Häkchen zu ihren Gunsten setzen kann. Deshalb komme ich zum Schluss, dass die meisten Religionsgemeinschaften mindestens eine leichte Schlagseite haben. Und ja, auch Freikirchen können schlecht abstreiten, dass der eine oder andere Aspekt auf sie zutrifft.
Definitionen sind also das eine, wichtiger ist aber die Prüfung nach dem Motto: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Diese mehr praktischen denn theoretischen Merkmale sind wichtig, weil sich vermehrt auch außerhalb der religiösen Welt sektenhafte Gruppen tummeln.
Der laute Aufmarsch der Corona-Leugner und Maßnahmengegner bei den Demos hat eindrücklich demonstriert, dass sich auch im politischen Umfeld sektiererische Gruppen formiert haben. Von den Verschwörungstheoretikern bis zu den Reichsbürgern, von den "Freiheits"-Trychlern bis zu den Rechtsradikalen, von den allzu strammen Linken bis zu den Anthroposophen, von esoterischen Gruppen weisen viele Bewegungen und Szenen Sektenmerkmale auf.
Auch radikale Ideologien können ähnlich sektiererisch sein wie die Heilslehren von eigentlichen Sekten.
Sektenhaftes Verhalten ist nicht mehr das zweifelhafte Privileg von Sekten. Es hat sich längst in der Mitte unserer Gesellschaft eingenistet.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung (und minimalen Änderungen) von watson.ch.
6 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Da besteht auch die Möglichkeit, dass man auch den säkularen Humanismus als eine Sekte einreiht.
klar den eigenen Standpunkt darzulegen, bewahrt vor Sektierertum.
A.S. am Permanenter Link
Ich sehe das ähnlich und führe das auf psychologische Mechanismen zurück: Indoktrination, die innerhalb von Filterblasen sich selbst verstärkend rückkoppelt.
Früher hatte die Kirche das Indoktrinationsmonopol. Als Filterblase gab es allenfalls den dörflichen Stammtisch bzw. für die Frauen den Dorfklatsch.
Heute gibt es viele, die uns aus Eigeninteresse indoktrinieren wollen und die Filterblasen bzw. Echokammern haben sich ins Internet verlagert.
Entkommen kann man dem meiner Meinung nach nur durch Pochen auf Evidenz.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Liebe Anja, "psychologische Mechanismen" - hast du den Artikel mal mit dem dort unten verlinkten Original verglichen?
LG vom Hans aus Erbach i. Rheingau
A.S. am Permanenter Link
Lieber Hans, danke für den Tipp. Große Unterschiede finde ich aber nicht.
Für mich ist eines der entscheidenen Mermale/Alarmsignale: Wie schwer wird es einem gemacht (formal/sozial/finanziell/psychologisch), sich von einer Gruppe zu wieder trennen?
Aus einem Sportverein kann man leicht austreten und Freundschaften bleiben i.d.R. erhalten.
Wenn aber, wie bei manchen Religionen üblich, der Austritt mit dem Tode bedroht wird, dann erinnert das doch sehr an die Mafia.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Stimmt, Anja; große Unterschiede sind da nicht.
ABER: Der Titel stimmt!
Und bzgl. deiner Alarmsignale gebe ich dir Recht!
Elke P. am Permanenter Link
Wichtige weitere Merkmale (die indes nicht alle erfüllt sein müssen):
Jenseits-/Todeskult
Auserwähltseinsvorstellungen
Schicksals-/Vorsehungsgläubigkeit
Unumkehrbare Hierarchien
Uniformität in der äußeren Erscheinung (Haartracht/Kleidung)
und vor allem:
Kontrolle der Sexualität