Femizide: Umfassende Studie zur Tötung von Frauen in Deutschland

gewalt_frau.jpg

Wenn Frauen zu Todesopfern von "Eifersuchtsdramen", "Familientragödien" oder "Ehrenmorden" werden, ist ihre Geschlechtszugehörigkeit oft ein wesentlicher Bestandteil der Tatmotive. Deren Spektrum reicht von männlichem Besitzdenken und patriarchalischer Frauenverachtung über sexuelle Frustration bis hin zu generellem Frauenhass. Expert*innen des Instituts für Kriminologie der Universität Tübingen und des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen durchleuchten Taten, Tatmotive und Rechtsprechung auf breiter Datengrundlage.

Solche in der Wissenschaft "Femizid" genannten Tötungen von Frauen, weil sie Frauen sind, bekommen in Einzelfällen große mediale Aufmerksamkeit. Aber wie oft sie in Deutschland tatsächlich vorkommen, welche unterschiedlichen Arten von Frauenfeindlichkeit ihnen zugrunde liegen und welche Rolle geschlechtsbezogene Motive der Täter bei den Ermittlungen und vor Gericht spielen, ist weitgehend unbekannt. Licht in das Dunkel soll jetzt eine auf drei Jahre angelegte, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Studie des Instituts für Kriminologie der Universität Tübingen (IfK) und des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) bringen. Beteiligt sind Fachleute aus den Rechtswissenschaften, der Psychologie, der Soziologie und den Kulturwissenschaften.

"Eine empirisch fundierte Studie zu Femiziden, welche die verschiedenen sozialen Kontexte und Motivlagen berücksichtigt, gibt es für Deutschland bisher nicht", sagt Prof. Dr. Tillmann Bartsch, stellvertretender Direktor des KFN. Er führt das Forschungsprojekt gemeinsam mit Prof. Dr. Deborah Hellmann (KFN und Professorin für Psychologie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW) sowie Prof. Dr. Jörg Kinzig, dem Direktor des IfK Tübingen, durch.

Die Grundlage der Untersuchung bilden Strafverfahrensakten von Fällen, in denen Frauen getötet oder Opfer einer Körperverletzung mit Todesfolge wurden. Auch Tötungsversuche werden einbezogen. Ausgewertet werden Akten der Bundesländer Baden-Württemberg, Berlin, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz aus dem Jahr 2017. Diese Datenbasis bildet etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung ab und spiegelt die Situation der großen Flächenländer wie auch der Stadtstaaten. In den vier ausgewählten Bundesländern gab es in diesem Zeitraum laut polizeilicher Kriminalstatistik 352 Tötungen von Frauen. Wie viele davon Femizide sind, gehört zu den Fragen, die das Forschungsprojekt beantworten wird. Die Aktenauswertung wird ergänzt durch Interviews mit Vertreter*innen von Polizei, Justiz und Opferschutzverbänden.

"Die wissenschaftlichen Arbeiten, die es zu Tötungsdelikten mit weiblichen Opfern in Deutschland bislang gibt, konzentrieren sich auf sogenannte Ehrenmorde und Tötungen in Partnerschaften", erläutert Jörg Kinzig vom IfK. "Andere große Bereiche sind hingegen bislang im Dunkeln geblieben. Sie werden wir im Forschungsprojekt nun zum ersten Mal beleuchten, um ein vollständigeres Bild zu gewinnen", ergänzt Dr. Wolfgang Stelly vom Tübinger Forschungsteam. Dazu gehört das Prostitutions-, Zuhälter- und Rockermilieu, in dem Frauen oft zu Opfern von Gewalt und Unterdrückung bis hin zur Tötung werden. Wenig weiß man bisher auch über Frauentötungen, die zwar im sozialen Nahbereich, aber nicht durch Partner, sondern durch Freunde, Arbeitskollegen oder auch flüchtige Bekannte begangen wurden. Die eindeutigste Form des Femizids sind Tötungen aus allgemeinem Frauenhass: Ein Beispiel dafür ist der Attentäter von Winnenden, der gezielt Lehrerinnen und Mitschülerinnen aus diesem Motiv heraus tötete. Gegenwärtig macht zudem die Incel-Bewegung von sich reden, deren Mitglieder ihre Frauenfeindlichkeit mit sexueller Frustration rechtfertigen.

Ein weiterer Fokus der Untersuchung liegt auf der Frage, wie die Strafverfolgungsbehörden und die Justiz geschlechtsbezogene Beweggründe bewerten und welche Rolle sie beim Strafmaß spielen. "Die in anderen Ländern schon länger geführte Debatte über die rechtliche Einordnung des Femizids hat nun auch in Deutschland begonnen", legt Deborah Hellmann vom KFN dar. Verschiedentlich wird Ermittlungsbehörden und Gerichten ein mangelndes Bewusstsein für die Frauenfeindlichkeit dieser Taten vorgeworfen und bereits die Schaffung eines eigenen Straftatbestands gefordert. "Wir sind uns der gesellschafts- und rechtspolitischen Brisanz des Themas natürlich bewusst. Mit unserer Grundlagenstudie möchten wir ein empirisches Fundament schaffen und so zu einer Versachlichung der Debatten beitragen", sagt Tillmann Bartsch.

Unterstützen Sie uns bei Steady!