Wo bleibt Ethikunterricht in den Grundschulen? – Teil 2

Die Antwort des Kultusministeriums Baden-Württemberg

Schule_Unterricht_Klassenzimmer.jpg

Wenn es stimmt was in den Bildungsplänen steht, dann sind die Inhalte des Religionsunterrichts ein unbedingt notwendiger Bestandteil der Bildungs- und Erziehungsarbeit. Nach dem Schulgesetz dient der Ethikunterricht dazu, ein entsprechendes, weltanschaulich neutrales Bildungsangebot zu machen. Dieses Bildungsangebot für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, wird in Baden-Württemberg verweigert.

Wenn die einen Schülerinnen und Schüler ihr ganzes Schulleben lang zwei Religionsstunden pro Woche benötigen, dann ist für die "anderen" ein gleichwertiges weltanschaulich-neutrales Alternativ-Angebot erforderlich. Denn die "anderen" bilden inzwischen die Mehrheit und sie brauchen dieses Angebot mindestens so dringend wie die Kinder, für die der Staat Religionsunterricht anbietet, für den er die Lehrkräfte ausbildet und bezahlt, die Räume, die Bibeln und Gesangbücher kostenfrei zur Verfügung stellt. Die baden-württembergische Landesregierung verweigert der Hälfte der Schüler der öffentlichen Grundschulen nicht nur den Ethikunterricht. Sie lenkt außerdem einen Großteil der Betroffenen bewusst in den Verzicht auf ein Grundrecht hinein.

Die Stellungnahme des Kultusministeriums hat es bestätigt: Obwohl die Landesregierung seit vielen Jahren verspricht, neben dem konfessionellen Religionsunterricht endlich auch an den Grundschulen des Landes das "Ersatzfach" Ethik einzuführen, ist sie dazu nicht wirklich bereit: Die notwendigen Voraussetzungen werden planmäßig sabotiert; für zusätzliche Lehrkräfte wird kein Geld eingeplant; das Kultusministerium nennt nicht einmal einen Zeitplan, wann Ethik an den Grundschulen eingeführt werden soll. Der Landesverband Baden-Württemberg der Giordano-Bruno-Stiftung hat die Stellungnahme des Kultusministeriums analysiert und hat folgende Kommentare und Anmerkungen:

Die Anzahl der Schüler mit konfessioneller Bindung nimmt stetig ab

Das Kultusministerium hat die Zahl der Schülerinnen und Schüler insgesamt sowie nach evangelischer beziehungsweise katholischer Konfession an den öffentlichen Grundschulen in Baden-Württemberg für die Schuljahre 2013/2014 bis 2022/2023 ausgewiesen (Anlage 1 der Stellungnahme des Kultusministeriums). In dem Zeitraum ging der Anteil der Schüler mit evangelischer oder katholischer Konfession von 64,3 auf 51,2 Prozent zurück. Die erwartete Tendenz rückläufiger Zahlen der Kinder, die einer christlichen Konfession angehören und den Religionsunterricht besuchen müssen, wird bestätigt. Die Zahlen sind jedoch höher als zu erwarten war, wenn man die Zahlen der Kinder im Einschulungsalter betrachtet. Man könnte an einzelnen Schulen überprüfen, ob nicht ein systematischer Fehler vorliegt, der höhere Zahlen erklärt.

Konfessionsfreie Schüler nehmen "freiwillig" am Religionsunterricht teil

Der Religionsunterricht ist inhaltlich eine kirchlich-religiöse Handlung und zur Teilnahme daran darf niemand gezwungen werden. Diese "negative Religionsfreiheit" ist ein Grundrecht. Für Grundschulen dürfte es von Jahr zu Jahr schwieriger werden, mit dieser Rechtslage und der Entwicklung der Bekenntnisse ihrer Schülerinnen und Schüler umzugehen. Denn wenn für den Religionsunterricht kein Ersatz angeboten wird, müssen die "anderen" Grundschülerinnen und Grundschüler in den "Reli"-Stunden irgendwie anderweitig versorgt werden. Wie das geschieht? In seiner Antwort auf den SPD-Antrag teilt das Kultusministerium hierzu nur mit: "Aufgrund der grundgesetzlich geschützten negativen Religionsfreiheit dürfen Schülerinnen und Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, nicht im Religionsunterricht mitbetreut oder unterrichtet werden. Den Schülerinnen und Schülern muss demnach in der Regel in dieser Zeit ein anderes Bildungsangebot gemacht werden. In Frage kommen beispielsweise Angebote im Rahmen der Verlässlichen Grundschule. Darüber hinaus kann der Religionsunterricht in den Randstunden stattfinden".

Der Anteil der Grundschulkinder, die in Baden-Württemberg am Religionsunterricht teilnehmen, sinkt kontinuierlich. Im Schuljahr 2013/2014 nahmen noch insgesamt 82 Prozent teil, 2022/2023 waren es noch 71 Prozent. Irritierend ist: obwohl im Schuljahr 2022/2023 nach Zahlen des Instituts für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) etwa 51 Prozent als Kirchenmitglied zu dessen Besuch verpflichtet sind, nehmen 71 Prozent aller Grundschulkinder daran teil (Anlage 2 der Stellungnahme des Kultusministeriums).

Die negative Religionsfreiheit wird unterlaufen

Wie kommt es zu dieser Differenz von 20 Prozent? Die freiwillige Teilnahme am Religionsunterricht ist in den letzten zehn Jahren kontinuierlich angestiegen. Waren es im Schuljahr 2013/2014 etwa 64.000 Schülerinnen und Schüler oder 18 Prozent, schickten im Schuljahr 2022/2023 die Erziehungsberechtigten von mindestens etwa 77.000 Grundschulkindern ihr Kind freiwillig in den Religionsunterricht. Die Anzahl konfessionsfreier und andersgläubiger Schülerinnen und Schüler, die freiwillig am Religionsunterricht teilnehmen, dürfte sogar noch höher liegen, da nicht einmal alle Kirchenmitglieder am Religionsunterricht teilnehmen. Es gibt christliche Bekenntnisangehörige, für die kein Religionsunterricht eingerichtet ist und es gibt Bekenntnisangehörige, die sich abgemeldet haben. Nach dem Bericht einer evangelischen Landeskirche in Württemberg ist die Anzahl der Abmeldungen vom evangelischen Religionsunterricht seit Jahren stabil und liegt derzeit bei etwa 4 Prozent; etwa 8 Prozent aller evangelischen Schülerinnen und Schüler an den öffentlich-allgemeinbildenden Schulen können vorwiegend aufgrund regionaler Gegebenheiten (z. B. Mindestzahl von 8 Schülern nicht erreicht) keinen Religionsunterricht erhalten.

Es ist überraschend und interpretationsbedürftig, wenn sich Schülerinnen und Schüler, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, im katholischen, evangelischen oder konfessionell-kooperativen Religionsunterricht wiederfinden. Für Schülerinnen und Schüler, die konfessionsfrei sind oder für die kein Religionsunterricht eingerichtet ist, fehlt es häufig an alternativen schulischen Angeboten und dann geht man eben doch hin, weil die Kinder "aufgehoben" sind und nicht in einer Hohl- oder Randstunde ohne sichere Aufsicht in der Schule herumtoben. Wie Vergleiche mit anderen Bundesländern zeigen, die Ethikunterricht an der Grundschule anbieten, ist der in Baden-Württemberg vergleichsweise hohe Anteil der "freiwilligen" Teilnahme am Religionsunterricht auch dadurch bedingt, dass gar kein Ethikunterricht angeboten wird. Kirchen, Schulen und Religionslehrer sind stark daran interessiert den Religionsunterricht interessant und attraktiv zu gestalten, damit konfessionsfreie und andersgläubige Schülerinnen und Schüler teilnehmen.

Das ist für Religionslehrer und Lehrstühle für Religionspädagogik ein wichtiges Thema, wie ein Tagungsband "Konfessionslosigkeit als Normalfall – Religions- und Ethikunterricht in säkularen Kontexten" der Tagung "Religiöse Bildung in der Schule im Horizont wachsender Konfessionslosigkeit" eindrücklich dokumentiert. Kirchen und Religionslehrkräfte machen sich darüber Gedanken, wie mit konfessionsfreien Schülern umzugehen ist, damit diese nicht etwa als "Ungläubige" im Religionsunterricht brüskiert werden. Schülerinnen und Schüler ohne oder mit anderer Konfession dürfen auf Antrag und mit Zustimmung der Religionsgemeinschaft deren Religionsunterricht freiwillig besuchen. Die Zustimmung wird in der Regel erteilt. Diese freiwilligen Teilnehmer zählen für den Religionsunterricht und erleichtern mancherorts die Mindestschülerzahl von 8 Schülern zu erreichen. In der Elterninfo zum Schulanfang erläutert das Kultusministerium von Baden-Württemberg die Angebote des bekenntnisorientierten und des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts. Über die Angebote für konfessionsfreie oder Andersgläubige wird nicht informiert.

Wenn Eltern Kinder an der Grundschule anmelden, müssen sie eine "Erklärung der für die Organisation des Religionsunterrichts notwendigen Angaben" ausfüllen. Danach haben sie die Wahl zwischen den an der Schule verfügbaren Optionen; sie müssen das jeweils Zutreffende ankreuzen und unterschreiben. Ins Auge sticht die von den Schulen gewünschte Option – die Teilnahme an einem angebotenen Religionsunterricht. Es gibt sogar Schulen, die die Option "Im Vertretungsfall darf Kind in Religion mitbetreut werden" im Formular aufführen und die sich bei Ablehnung die "Betreuung zu Hause" bestätigen lassen. Es kommt dem Tatbestand der Nötigung nahe, wenn berufstätige Eltern oder Alleinerziehende das akzeptieren und unterschreiben müssen. Ein eindeutiger Verstoß gegen die negative Religionsfreiheit und gegen die Regelung des Kultusministeriums, nach der konfessionslose Kinder nicht im Religionsunterricht mitbetreut werden dürfen. Hier zeigt sich die Verquickung von Kirche und Staat, die auch im Kultusministerium besonders stark zu sein scheint.

Während das Kultusministerium den Schulen ausdrücklich verbietet, für die Abmeldung vom Religionsunterricht Formulare bereitzuhalten, stellt es für den umgekehrten Fall, nämlich die Anmeldung zur "freiwilligen" Teilnahme, nicht nur Vorlagen für amtliche Formulare bereit, sondern verpflichtet die Betroffenen sogar zum Ausfüllen und zur Unterschrift.

Der Wahlmodus soll dazu beitragen, dass auch konfessionslosen Schülern angeboten wird, den Religionsunterricht zu wählen. Eine berechtigte Forderung ist, dass die Eltern bei der Einschulung darüber informiert werden, wie das alternative Schulangebot ausfällt, wenn Schüler nicht am Religionsunterricht teilnehmen und kein Ethikunterricht angeboten wird.

Viele Eltern (auch Atheisten oder Muslime) wählen die Option, ihr Kind "freiwillig" zum Religionsunterricht anzumelden. Die Motivation dafür liegt in der Regel weder an der Attraktivität des Religionsunterrichts noch am Interesse der Eltern oder ihrer Kinder, etwas aus erster Hand über die Religion zu erfahren. Die Gründe liegen eher darin, dass Eltern ihre Kinder nicht als Außenseiter ausgrenzen möchten oder damit die Kinder in "Freistunden" nicht ohne Aufsicht sind oder in einem tristen Aufenthaltsraum oder in der Parallelklasse herumsitzen. Dann sollen sie doch lieber mit ihren christlichen Mitschülerinnen oder Mitschülern in die Reli-Stunde gehen. Kirche und Religion spielen im Bewusstsein der meisten Menschen kaum mehr eine Rolle.

Eltern gehen davon aus, dass der Religionsunterricht dem Kind nicht schadet. Dem ist jedoch nicht unbedingt so. Ein Kind kommt nicht gläubig auf die Welt. Die Kindheit prägt unser ganzes Leben – und damit auch unsere Religiosität. Die Prägung auf ein religiöses Bekenntnis entsteht durch Erziehung – und genau deshalb ist den Kirchen die Trägerschaft von Kindergärten und der konfessionelle Religionsunterricht an der Schule so wichtig. Der Religionsunterricht dient nicht der Information über Religion, sondern der Vermittlung des jeweiligen Glaubens. Das Säkulare Forum Hamburg berichtet anschaulich, dass die Gefahr der Missionierung von Kindern aus konfessionsfreien Familien an Hamburger Schulen durch den "Religionsunterricht für alle" real ist: Eltern werden von ihren Kindern zum Beispiel mit deren neuesten Erkenntnissen aus dem Religionsunterricht konfrontiert: "Ich bin von Gott erschaffen worden" oder: "Was im Planetarium über die Entstehung des Sonnensystems gesagt wurde, stimmt gar nicht, denn Gott hat die Welt in sieben Tagen erschaffen."

Diskriminierung konfessionsfreier Schüler und Eltern

Nach Paragraf 100a ("Ethikunterricht") des Schulgesetzes von Baden-Württemberg "dient der Ethikunterricht der Erziehung der Schülerinnen und Schüler zu verantwortungs- und wertbewusstem Verhalten". Das Kultusministerium schreibt in der Stellungnahme: "Dem Ausbau des Faches Ethik kommt eine hohe Bedeutung zu, um auch den nicht am Religionsunterricht teilnehmenden Schülerinnen und Schülern ein entsprechendes weltanschaulich neutrales Bildungsangebot machen zu können."

Eltern und Kinder, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, werden seit vielen Jahren dadurch diskriminiert, dass das Fach nicht für alle öffentlichen Schulen und Schulklassen eingerichtet ist. Hinzu kommt, dass der Ethikunterricht in erheblichem Maße nicht durch fachgerecht qualifizierte Lehrkräfte, vergleichbar mit der Ausbildung von Religionslehrkräften, erteilt wird. Die Fachkompetenz der Lehrerinnen und Lehrer hat starken Einfluss auf die Wertschätzung eines Fachs durch die Schüler und bei einer Wahlentscheidung zwischen Religions- und Ethikunterricht. Sie ist aber auch Ausdruck und Gradmesser der Privilegierung religiöser und der Diskriminierung religionsloser Schüler.

Kinder haben einen auf Sinn- und Wertefragen bezogenen Bildungsanspruch. Hiervon dürfen Kinder, deren Eltern oder deren Sorgeberechtigte nicht-religiös, religiös distanziert oder skeptisch sind, nicht ausgegrenzt werden. Wir brauchen eine ethische Grundbildung in den Schulen, diese könnte auch überkonfessionell vermittelt werden, aber dann fürchten die Kirchen weiteren Mitgliederschwund.

Der staatliche Auftrag zur ethisch-moralischen Erziehung – Schulfach oder Querschnittsaufgabe?

Das Kultusministerium schreibt in seiner Stellungnahme: "Der staatliche Auftrag zur ethisch-moralischen Erziehung beschränkt sich jedoch nicht auf einzelne Schulfächer wie den Ethik- oder den Religionsunterricht. Er ist vielmehr eine Querschnittsaufgabe von Schule und Unterricht und ist auch für die Grundschule als übergeordnetes Ziel im Leitfaden Demokratiebildung, in den Leitperspektiven sowie in den Fachplänen verankert." Religionsunterricht und Ethik müssten kein eigenständiges Fach sein, da kann man dem Kultusministerium zustimmen. Fachinhalte können auch in andere Fächer integriert werden. Religion und Ethik als Gegenstand fände demzufolge auch in Philosophie, Geschichte, Gemeinschaftskunde oder sogar den Fremdsprachen Platz. Konfessionsschulen kirchlicher Träger praktizieren diesen integrativen Ansatz und weisen kein Fach Religion aus. Es ist jedoch nicht akzeptabel, wenn die Argumentation nicht gleichermaßen für den Religions- und für den Ethikunterricht gelten soll. Solange der Religionsunterricht ein ordentliches Lehrfach ist, ist auch das Fach Ethik erforderlich.

Mit dem staatlichen Auftrag zur ethisch-moralischen Erziehung, der jedoch nicht beschränkt ist auf einzelne Schulfächer wie den Ethik- oder den Religionsunterricht, soll der fehlende Ethikunterricht relativiert werden. Mit dieser Argumentation kann man gleichermaßen den Religionsunterricht in Frage stellen oder abschaffen. Dies wird jedoch vehement abgelehnt, wie Beispiele aus Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern zeigen. In Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg wollten Schülervertretungen den Religionsunterricht reduzieren oder abschaffen; in Bayern hat die Kultusministerin jüngst den Vorschlag gemacht, die Stundenzahl (in Bayern wird Religion in drei Wochenstunden unterrichtet) zu kürzen (siehe Teil 1).

Mehrbedarf für Ethikunterricht an der Grundschule: 460 Planstellen?

Für den Ausbau beziehungsweise die Einführung des Ethikunterrichts an Grundschulen geht das Kultusministerium von einem Mehrbedarf im Umfang von 460 Vollzeitäquivalenten aus. Mit den Kosten für die 460 Deputate wird gerechtfertigt, dass Ethikunterricht bislang nicht geplant ist. Dabei wird verschwiegen, dass bisher den Grundschulen diese 460 Planstellen für die Betreuung der Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, versagt werden. Die Grundschulen müssen während der zwei Wochenstunden Religionsunterricht die nicht-teilnehmenden Kinder beaufsichtigen und irgendwo unterbringen.

Anmerkung zum islamischen Religionsunterricht

Die Kirchen bemühen sich darum, für die Moscheevereine in Deutschland einen ähnlichen Status zu erreichen, um dann Arm in Arm zu dritt Reformen zu verhindern, die Privilegien zu erhalten und den Religionsunterricht nicht nur zu erhalten sondern sogar auszuweiten. Kirchen betonen zum Beispiel, dass der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen laut Grundgesetz ordentliches Lehrfach ist und setzen sich dafür ein, dass man die Muslime nicht einfach davon ausnehmen kann. In den Koalitionsvertrag der Landesregierung Baden-Württemberg 2016 bis 2021 wurde der islamische Religionsunterricht aufgenommen: "Wir werden das Modellprojekt zum islamischen Religionsunterricht weiter ausbauen. Überall dort, wo er nachgefragt wird, wollen wir den islamischen Religionsunterricht ermöglichen. Wir streben an, dass sich aus dem Modellprojekt ein regulärer islamischer Religionsunterricht entwickeln kann. Die unterrichtenden Geistlichen und Lehrkräfte müssen an deutschen Hochschulen ausgebildet sein." Im Koalitionsvertrag 2021 bis 2026 heißt es: "Wir werden islamischen Religionsunterricht weiter ausbauen. Die Stiftung Sunnitischer Schulrat werden wir engagiert weiter unterstützen."

Verfechter des Islamunterrichts wie Ministerpräsident Winfried Kretschmann argumentieren, dass damit der Islamunterricht bei Imamen in Hinterhofmoscheen vermieden werde. Tatsache ist, dass der Islamunterricht in Moscheen weiterhin stattfindet und nicht unterbunden werden kann. Die Koranschule sei stärker als jeder Religionslehrer, schreibt der Journalist Joachim Wagner über die Auswertungen der Modellversuche islamischen Religionsunterrichts. Der islamische Religionsunterricht an der Schule löst das Problem nicht. Im Gegenteil: er stärkt die islamisch-religiöse Identität – auf Kosten der Integration und einer gemeinsamen freiheitlich-demokratischen Identität.

Damit wird ein Phänomen europäischer Einwanderungsgesellschaften gestärkt: religiöse muslimische Schüler halten ihre Religion für überlegen und stellen sich unter Berufung auf ihre kulturelle und religiöse Identität über andere, grenzen sich ab und lehnen die Offene Gesellschaft ab. Der wahre Grund für die Etablierung des islamischen Religionsunterrichts scheint eher zu sein, dass man darin eine Möglichkeit sieht, den christlichen Religionsunterricht, der in die Defensive geraten ist, zu stärken (siehe: "Christlichen Religionsunterricht retten – mit Hilfe des Islam?"). Bemerkenswert ist auch, dass beim islamischen Religionsunterricht die Kosten keine Rolle spielen, während beim Ethikunterricht die Kosten in den Vordergrund gestellt werden.

Grundgesetz Artikel 7 (Schulwesen) – bis heute einseitig pro-Reli interpretiert

Im Artikel 7 des Grundgesetzes heißt es:

(1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.

(2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.

(3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen. (Hervorhebung durch den Autor)

Kirchenvertreter, Politiker und auch das Kultusministerium rechtfertigen die Sonderstellung des Religionsunterrichts mit Hilfe einer einseitigen Interpretation von Artikel 7, Absatz 3 des Grundgesetzes, die wie ein Mantra ständig wiederholt wird. Die herausragende Stellung des Religionsunterrichts wird damit begründet und verteidigt, indem Befürworter auf Artikel 7, Absatz 3 GG hinweisen, nach dem dem Religionsunterricht angeblich eine Sonderstellung zukomme.

Das Kultusministerium zum Beispiel schreibt in seiner Stellungnahme: "Der bekenntnisgebundene Religionsunterricht genießt eine hervorgehobene verfassungsrechtliche Stellung aufgrund von Art. 7, Abs. 3 GG und Art. 18 Landesverfassung sowie den §§ 96 und 98 Schulgesetz Baden-Württemberg. Demnach ist bekenntnisgebundener Religionsunterricht Pflichtfach an den öffentlichen Schulen. Er ist zu ermöglichen, wenn eine Mindestschülerzahl, ggfs. auch klassen-, klassenstufen- und schulstandortübergreifend, von acht Schülerinnen und Schülern zustande kommt." Dabei wird geflissentlich übergangen, dass die Väter des Grundgesetzes einen wichtigen Halbsatz formuliert haben, der im selben Absatz zu finden ist. Offenbar war den Verfasserinnen und Verfassern des Grundgesetzes im Jahr 1949 bewusst, dass der staatlich geförderte Bekenntnisunterricht im Widerspruch zur Trennung von Staat und Kirche steht, weshalb sie diese bemerkenswerte Einschränkung in Artikel 7 GG einfügten.

Der Religionsunterricht soll zwar "ordentliches Lehrfach" sein, jedoch "mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen". Bekenntnisfreie öffentliche Schulen könnten also die wichtigen Fragen über Gott und die Welt so behandeln, wie man es von einer öffentlichen Schule erwarten sollte, nämlich weltanschaulich neutral, rational und evidenzbasiert.

Ein Bundesland wie Baden-Württemberg kann jederzeit die Schulen zu bekenntnisfreien Regelschulen erklären. Eine inhaltlich neutrale bekenntnisfreie Regelschule wäre verfassungsrechtlich problemlos möglich als eine gleichrangige Option zur christlichen Schule mit Religionsunterricht (siehe Gerhard Czermak: "Religiös-weltanschauliche Neutralität – Zur rechtsdogmatischen Klärung und zur deutschen Realität", S. 115-116).

Die Option der bekenntnisfreien Schule würde den geänderten Umständen, der Mehrheit nicht-christlicher Schüler, Rechnung tragen. Einige Bundesländer haben bei der Übernahme von Grundgesetz-Artikeln in die Landesverfassung Akzentuierungen vorgenommen, die in die unterrichtliche Praxis eingreifen. Im Sinne des Grundgesetzes ist das aber nicht. Es geht vom Vorrang des Bundesrechtes aus und erlaubt nur dann etwas anderes, soweit es das selbst regelt (z. B. die "Bremer Klausel").

Auch Baden-Württemberg hat akzentuiert, indem Artikel 7, Absatz 3 verkürzt in Artikel 18 der Landesverfassung übernommen wurde, ohne die Formulierung "mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen". Das war eine politische Entscheidung im Sinne der Kirchen, die aber nicht relevant ist, da das Bundesrecht Vorrang hat.

Bekenntnisfreie Schule / Christliche Bekenntnisschule – gleichberechtigte Optionen

Säkulare und konfessionsfreie Bürger fordern die Einführung "bekenntnisfreier Schulen", die es bislang nur im Verfassungstext gibt, und den Ersatz des Religionsunterrichts durch einen Ethik-, Philosophie- oder Religionskundeunterricht. Weltanschaulich parteiische Schulgesetze, welche zum Beispiel die "Ehrfurcht vor Gott" beinhalten, könnten umformuliert werden, beispielsweise zu "Achtung der Menschenwürde". Mit dem Ziel einer angstfreien Erziehung ist es nicht zu vereinbaren, wenn die Landesverfassung fordert, dass die Schule die Jugend zur Gottesfurcht zu erziehen habe.

Für die Einführung bekenntnisfreier Schulen ist keine Änderung des Grundgesetzes erforderlich – die Bundesländer müssten ihre Schulgesetze und gegebenenfalls die Landesverfassung ändern, um die Statusänderung der staatlichen Schulen zu bekenntnisfreien Schulen zu ermöglichen. Das Wort "bekenntnisfrei" als Qualifikation ist für staatliche Schulen nicht erforderlich – es ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Um Missverständnissen vorzubeugen: Schulen in kirchlicher Trägerschaft können selbstverständlich weiterhin als Bekenntnisschulen betrieben werden.

Im Jahr 1949 waren noch circa 95 Prozent der Deutschen Mitglied in einer der großen Kirchen. Ende 2022 waren es nur noch 48 Prozent. Die religiöse Bindung schrumpft in der Gesamtbevölkerung. Seit Jahren sinkt die Zahl der Gottesdienstteilnehmer und der Taufen. Gleichzeitig hat die wachsende religiöse Heterogenität der Schülerschaft durch EU-Binnenwanderer und Flüchtlinge aus Nicht-EU-Ländern eine fatale Auffächerung des Religionsunterrichts ausgelöst.

Mehrere kleine Religionsgemeinschaften wie Aleviten haben ihren verfassungsrechtlichen Anspruch auf einen eigenen Religionsunterricht durchgesetzt. Die Folge in Baden-Württemberg: Für acht von mehr als einhundert Religionen können Religionsunterrichte parallel an staatlichen Schulen besucht werden. Die Zersplitterung des Religionsunterrichts in Deutschland hat heute das Gegenteil dessen zur Folge, was der Grundgesetzartikel 7 ursprünglich wollte: Der nach Religionsgemeinschaften getrennte Unterricht fördert nicht Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern schadet beidem.

Der Düsseldorfer Bildungsforscher Klaus Spenlen stellt die provokante, aber richtige Frage: "Lässt sich in Zuwanderungsgesellschaften noch ein Religionsunterricht rechtfertigen, bei dem Kinder für zwei Unterrichtsstunden separiert werden, um kulturelle, ethnische und weitere Besonderheiten zu erlernen?" Die Antwort heißt "Nein!"

Die Mehrheit der Bevölkerung (72 Prozent) fordert einen gemeinsamen "Ethikunterricht für alle", wie eine Repräsentativ-Umfrage der GfK ergeben hat. Säkulare Bürger fordern die Umwandlung von staatlichen Bekenntnisschulen in bekenntnisfreie, weltanschaulich neutrale Schulen. Diese Forderung erscheint angesichts der Kirchenhörigkeit der Politik zurzeit in Deutschland noch unrealistisch zu sein. Das kann und wird sich aber ändern. Beispiele für solche Veränderungen gibt es viele in Europa. Im Jahr 2016 zum Beispiel wurde in Luxemburg der Religionsunterricht abgeschafft und Werteunterricht eingeführt. Die Mehrheit der Bevölkerung, auch die Mehrheit der Kirchenmitglieder identifizieren sich mit einem säkularen Staat, bei dem Staat und Kirche getrennt sind. Öffentliche/staatliche Schulen müssen als Regelschule bekenntnisfrei werden.

Der erste Teil des Textes findet sich hier.

Unterstützen Sie uns bei Steady!