Rezension

Die Öko-Visionärinnen

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Charlotte Kerner führt in einem Buch die Lebensgeschichten dreier Wissenschaftlerinnen zusammen, die wichtige Beiträge zu einem Weltbild lieferten, in dem der Mensch intensiv mit der natürlichen Umwelt verknüpft ist. Rachel Carson, Lynn Margulis und Donna Haraway waren Vorreiterinnen einer humanistisch orientierten Ökologie. Alle drei mussten sich gegen Widerstände im männlich dominierten Wissenschaftsbetrieb durchsetzen und behaupteten sich letztlich erfolgreich. Kerner befragt das Denken der drei Visionärinnen zum Naturverhältnis des Menschen. Das Ziel der Autorin ist es, eine eine weniger anthropozentrische und feministisch motivierte Vision des menschlichen Umgangs mit der Natur zu skizzieren.

Das mit Hilfe künstlicher Intelligenz erzeugte Titelbild bringt die zentrale Botschaft auf den Punkt. Es zeigt drei selbstbewusste sonnenbebrillte Frauen vor einem Vulkan, ein starkes ökofeministisches "Triumfeminat", wie es die Autorin nennt. Die drei stehen für zentrale Einsichten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die im Zeitalter des Anthropoäns wichtiger denn je sind. Menschliches Handeln schädigt die natürliche Umwelt und damit dauerhaft uns selbst (Carson). Kooperation und Symbiose zwischen Organismen sind wichtige Prinzipien in der Evolution (Margulis). Sprache ist ein zentrales Mittel der Wissenschaft wie auch der feministischen Wissenschaftskritik (Haraway).

Charlotte Kerner ist eine erfahrende Biographin und dabei historisch interessiert und feministisch orientiert . Sie schrieb großenteils für ein junges Publikum Bücher, die die etablierten Genregrenzen zwischen Sachbuch und Roman überschreiten. Das sind Lebensgeschichten vor allem zu mutigen Frauen, etwa über die Mystikerin und Universalgelehrte Hildegard von Bingen, die Naturforscherin und Künstlerin Maria Sibylla Merian, die Physikerin Lise Meitner und die Architektin und Designerin Eileen Gray.

Die drei Protagonistinnen dieses Buchs waren bzw. sind ausgebildete Biologinnen und haben über ihre Disziplin hinausgedacht und gewirkt. Rachel Carson (1907-1964) wurde berühmt mit ihrem Buch "Der Stumme Frühling", in dem die breite Öffentlichkeit 1962 zum ersten Mal grundlegend über die schädlichen Auswirkungen von Insektiziden aufgeklärt wurde. Sie gilt als Mutter der Ökologiebewegung. Lynn Margulis (1938-2011) konnte durch Studien an Bakterien zeigen, dass Zellen in der Evolution höchstwahrscheinlich aus dem Zusammenschluss ursprünglich eigenständiger Organismen hervorgingen. Mit dieser "Endosymbiontentheorie" lenkte sie das allgemeine Bewusstsein auf die Bedeutung von Symbiosen. Donna Haraway (*1944) wurde durch ihre Kritik der Primatologie als männlich zentrierter Wissenschaft und durch ihre Arbeiten zu Cyborgs, hybriden Wesen, die zwischen Mensch, Tier und Maschine stehen, berühmt. Damit war sie die Vorreiterin der Kritik jeglicher starrer Grenzen, sei es zwischen Natur und Kultur, zwischen den beiden Geschlechtern und auch zwischen Wissenschaft und Kunst.

Cover
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Kerner bringt die drei Wissenschaftlerinnen, die sich tatsächlich nicht oder allen-falls kurz begegneten, in einen intensiven Dialog miteinander. Der Kern des Buchs besteht in Beschreibungen der engen persönlichen Verbundenheit mit der Natur, die die drei besprochenen Wissenschaftlerinnen auszeichnet. Kerner verdeutlicht das mit vielen Beispielen, Varianten und immer wieder anderen Formulierungen in lebendiger Weise. Sie zeigt die Autorinnen als Menschen, die schon als Kinder von Tieren oder Landschaften begeistert sind. Diese enge Beziehung zur Natur, betrifft bei allen dreien, wenn auch unterschiedlich stark, das Erleben, Fühlen, Denken, die Lebensweise und den Lebensweg. Um diese enge Verflochtenheit zu zeigen, hat die Autorin eine kunstvolle Form der Darstellung gewählt.

Auf den ersten Blick wirkt die Gliederung des Buchs konventionell und einfach. Nach einem Vorwort widmen sich drei lange Kapitel je einer der drei, beginnend mit Rachel Carson als der zeitlich frühesten Vertreterin. Ein kurzes viertes Kapitel kreist um Ursula Le Guin (1927-2018), der klassischen Vertreterin anthropologisch informierter Science Fiction. Kerners Titel "We are Volcanoes" geht auf eine Mut machende Rede Le Guins an einem für junge Frauen offenen US-College zurück. Kerners Text ist dann aber sprachlich vielfältig, komplex gebaut und anspruchsvoll. Schon das Vorwort stimmt darauf ein. Es beginnt so: "Liebe Gefährt*innen, liebe Terrestrische oder auch gern Erdlinge. Hallo liebe Kritter". Wer Texte von Haraway gelesen hat, fühlt sich schon hier ganz zu Hause. Alle anderen Leserinnen, bei diesem Sachbuchgenre wohl die große Mehrheit, müssen sich erst mal einfinden. Kerner stimmt uns aber im Vorwort behutsam darauf ein, dass dieses Buch besondere Frauen in einer besonderen Weise nahebringen will.

Der Text enthält viele erfundene Passagen, worauf Kerner im Vorwort und nochmals in einer Anmerkung am Ende des Buchs hinweist. Diese fiktionalen Äußerungen oder Gespräche ermöglichen es, die drei Protagonistinnen in einen Dialog zu bringen, auch wenn der angesichts unterschiedliche Lebenszeiten und Aufenthaltsorte nicht tatsächlich stattfand. Jede der drei Frauen taucht in jedem Kapitel auf. Immer wieder mischen sie sich ein und bestätigen Aussagen, welche die jeweils andere in einem Buch oder Interview machte oder die Kerner ihnen in den Mund legt. So findet man auch Sätze à la "Meine Erkenntnis fiel leider erst 20 Jahre nach meinem Tod auf fruchtbaren Boden". Kerner geht transparent vor, indem diese fiktiven Passagen in anderer Schrifttype gesetzt sind. Die Autorin hat sich nicht nur detailliert in das Leben und Werk der drei Wissenschaftlerinnen eingearbeitet, sondern auch viele Interviews und Stimmen von Zeitgenossen ausgewertet, um in diesen Passagen den Ton der Autorinnen zu treffen.

Kerners Text arbeitet mit weiteren ungewöhnlichen Mitteln, auch im Inhaltsverzeichnis etwa mit Zitaten in den Kapiteltiteln. Den Kapiteln selbst sind Werke der Malerin Andrea Cochius vorangestellt, die mit vielen Elementen des jeweiligen Kapitels korrespondieren. Die Autorin arbeitet weiterhin mit einleitenden Motti, Kurzgedichten, sehr vielen Sprachspielen und vielen Fußnoten, die im Anhang auf-geschlüsselt sind. Hinzu kommen vielfältige Formen der Hervorhebung im Text: verschiedene Schrifttypen, Fettungen, Kursivierungen, kursivierte Fettungen und viele An- und Abführungszeichen. Das Buch hat einen ausführlichen Anhang, in dem weiteren Werke der drei Wissenschaftlerinnen, existierende Biographien und weiteres Material zur Einordnung genau dokumentiert werden

Kerner bietet uns eine kunstvolle Kollage, die immer wieder zum Hin-und-her-Blättern einlädt. Eine große Stärke des Buchs ist es, den machtvollen von Männern dominierten Kontext der Wissenschaft, mit dem sich die drei auseinandersetzen mussten, lebendig zu vermitteln. Dafür macht sie auch immer wieder Bezüge zu weiteren ForscherInnen, wie etwa Maria Mies, James Lovelock und Bruno Latour. Auch der makropolitische Kontext, insbesondere der Kalte Krieg, wird berücksichtigt. Kerner betet die Äußerungen der drei Autorinnen nicht nach, sondern gestaltet sie zu einem eigenen zum Denken anregenden Modell der Beziehungen zwischen Mensch, Umwelt und Erde, das im letzten Kapitel kulminiert. Sie bietet den Versuch einer dialogisch vermittelten Synthese. Daran kann, und ich glaube soll sich die LeserIn durchaus auch reiben.

Prof. Dr. Christoph Antweiler, Foto: privat

Prof. Dr. Christoph Antweiler, Foto: privat

Das bringt mich zu Einwänden gegen diesen informativen wie anregenden Text. Kerner will das Verbindende im Leben und Werk dieser drei Ökofeministinnen herausstellen und schießt dabei stellenweise übers Ziel hinaus. Manches wirkt stark gewollt, vor allem mittels Harawayischer Formulierungen. Die Sprachspiele Haraways werden hier allzu sklavisch nach- und ausgespielt. Carson und Margulis wären da nicht immer mitgegangen, was Kerner stellenweise auch durchblicken lässt. Ferner fällt auf, dass die Darstellung einer konventionellen Heldenerzählung ähnelt, nur sind es hier eben Heldinnen. Sie haben schon früh ein intensives Interesse an der Natur, verspüren eine Mission, das weiterzugeben, müssen dann auf ihrem Weg etliche Widerstände überwinden, um dann letztlich erfolgreich zu sein. Die Verehrung des "Triumfeminats" zeigt sich auch daran, dass Kritik an den Visionärinnen bei Kerner allenfalls in homöopathischer Dosis erfolgt.

Das Buch ist besonders für neugierige LeserInnen geeignet, die auf lebendige Weise etwas über wichtige Vordenkerinnen des heutigen ökologischen Denkens jenseits der reinen Naturwissenschaft erfahren wollen. Im Mittelpunkt steht das Motiv, humane und humanistische, aber nicht anthropozentrische Mensch-Natur-Beziehungen zu schaffen. Kerner hat ein anregendes und experimentell geschriebenes Buch geschrieben.

Charlotte Kerner: We are Volcanoes. Die Öko-Visionärinnen Rachel Carson, Lynn Margulis, Donna Haraway. Neu-Isenburg: Westend-Verlag, 2024, 231 S., Abb., 24,00 Euro

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