Das Symposium Kortizes 2024

Unbewusste Prozesse im Fokus

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Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Ulrich Ansorge, Prof. Dr. Tamara Fischmann, Helmut Fink, Prof. Dr. John-Dylan Haynes und Prof. Dr. Michael Pauen ( v. l.)
Podiumsdiskussion

"Iss Popcorn", "Trink Cola!", mit diesen Werbebotschaften sollten amerikanische Kinobesucher 1957 zum Konsum angeregt werden. Der Clou: Die Werbung erschien jeweils nur für Sekundenbruchteile auf der Leinwand – zu kurz, um bewusst bemerkt zu werden. Und tatsächlich sei der Verkauf beider Produkte deutlich angestiegen, hieß es. Ist es also möglich, Menschen mit subliminalen, d. h. unterschwelligen Reizen zu manipulieren, ohne dass es ihnen bewusst ist? Die Behauptung löste einen Aufschrei der Entrüstung aus, subliminale Werbung wurde in den USA verboten.

Zwar entpuppte sich die Story von der Wirkung unterschwelliger Reklame bald als Fake – ein Werbefachmann hatte sie sich ausgedacht, um sein Unternehmen zu pushen. Ähnliche Studien wurden später wirklich durchgeführt und zeigten einen leichten Effekt von unterschwelliger Werbung, wenn sie den momentanen Bedürfnissen der Probanden entspricht, also etwa Getränkewerbung bei durstigen Versuchspersonen. Dass unser Denken, Empfinden und Handeln auf unbewussten Prozessen beruhen könnte, die sich unserer Kontrolle entziehen – das befremdet uns noch heute.

Längst haben sich auch Kognitionswissenschaft, Hirnforschung und verwande Fachbereiche des Themas angenommen, wie das Symposium Kortizes am vergangenen Wochenende zeigte. Die Veranstaltung versammelte hochkarätige Fachleute und über 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor Ort im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, weitere 50 verfolgten das Symposium via Livestream. Organisiert wurde das Symposium von Institutsleiter Dr. Rainer Rosenzweig und Helmut Fink, Referat für Wissenschaft und Philosophie bei Kortizes.

Welche bedeutende Rolle das Unbewusste für grundlegende Hirnfunktionen wie Gedächtnis und Erinnerung spielt, erforscht etwa Prof. Dr. Christian F. Doeller. Er ist Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft, Direktor am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und Honorarprofessor für kognitive Neurowissenschaften des Lernens und des Gedächtnisses an der TU Dresden. Im Einführungsvortrag am Freitagabend (4. Oktober) schilderte er, was wir heute über die Arbeitsteilung verschiedener Hirnzellen bei der Bildung von Gedächtnisinhalten wissen. Ein spannender und vielleicht zukunftsweisender Aspekt ist die Verknüpfung von Gedächtnis und räumlichem Orientierungsvermögen, das derzeit im Maus-Modell untersucht wird.

Ein weiterer Kernaspekt unseres Selbstverständnisses, die Frage nach der Willensfreiheit, stand am Samstag, 5. Oktober, im Zentrum der Betrachtung. Diesem Forschungsfeld widmet sich Prof. Dr. John-Dylan Haynes, Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging (BCAN) und Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience (BCCN) der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Der Hirnforscher und Psychologe stößt dabei immer wieder auf den Irrtum, dass unsere Entscheidungsprozesse sich jeder Beobachtung entzögen und auch nicht im Gehirn beobachtet werden könnten. Haynes sieht darin ein Relikt der veralteten Vorstellung von einer Trennung zwischen Gehirn und Geist. Über 90 Prozent der Bevölkerung hängen noch einem solchen Dualismus an, wie Haynes in einer repräsentativen Untersuchung feststellte. Die Evidenz aus der Hirnforschung weist darauf hin, dass mentale Funktionen ein somatisches Substrat besitzen: Die Aktivitätsmuster im Gehirn entsprechen jeweils bestimmten Gedanken, und bei Hirnläsionen, etwa nach einem Unfall oder Schlaganfall, treten Störungen von kognitiven Hirnleistungen wie Sprache auf.

Prof. Dr. Uwe Mattler, Foto: © Brigitte Winkelmann

Prof. Dr. Uwe Mattler, Foto: © Brigitte Winkelmann

Auch die weiteren Vorträge des Tages zeigten, welche Rolle das Unbewusste bei Vorgängen im Gehirn spielt. So ist die sprachliche Kommunikation teils durch unbewusste Prozesse gekennzeichnet, wie anschließend Prof. Dr. Gesa Hartwigsen darlegte. Wie dies genau geschieht, erforscht die Psychologin an der Universität Leipzig und am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Dass wir zudem auch Sehreize verarbeiten, die unserem Bewusstsein entgehen, belegen etwa Versuche, die der Experimentalpsychologe Prof. Dr. Uwe Mattler von der Georg-August-Universität Göttingen vorstellte. In der Öffentlichkeit bekannter ist die Rolle des Unbewussten bei der Wahrnehmung von Geruchsreizen, wie sie von der Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Jessica Freiherr an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg untersucht wird. Auf dem Symposium erläuterte sie, warum Gerüche im Unterbewusstsein wirken und von allen Sinneseindrücken am stärksten mit Gefühlen verknüpft sind. Ihre Verarbeitung findet im limbischen System statt, einer entwicklungsgeschichtlich alten Hirnregion, die auch für Emotionen zuständig ist.

Hier reflektiertes Bewusstsein, dort das Emotional-Unbewusste: Das wirft die Frage auf, wer "Herr im Haus" des menschlichen Geistes ist. Spannende Aspekte hierzu trug der Sehforscher Prof. Dr. Ulrich Ansorge von der Universität Wien bei. Seine Forschungsergebnisse zerstreuen einige althergebrachte Zerrbilder. Demnach wirkt das Unbewusste keineswegs eigenmächtig oder antagonistisch zum Bewussten, sondern ist ihm in vielen Fällen zweckdienlich untergeordnet, wobei das Bewusstsein Ziele und Kontrolle innehat. Das erinnert an das bekannte Libet-Experiment, das auch John-Dylan Haynes in seinem Vortrag bereits angeführt hatte. Dabei wurde der Impuls zu einer Handlung im Gehirn bereits eine winzige Zeitspanne vor Ausführung der eigentlichen Handlung gemessen. Dennoch konnten die Probanden die Handlung auch danach noch bewusst abbrechen.

Es gibt also viele nützliche unbewusste Konstruktionsleistungen des Gehirns, nur bemerken wir sie im Alltag kaum. Erst bestimmte Sonderfälle der Wahrnehmung fördern sie zutage. Ein Beispiel sind Kippfiguren wie der bekannte Necker-Würfel. Solche Abbildungen lassen mehrere Interpretationen zu, die gleichermaßen wahrscheinlich sind. Beide werden im Gehirn verarbeitet, dennoch sehen wir zu jedem Zeitpunkt nur eine einzige Interpretation – die bald unvermittelt verschwindet und in die andere Interpretation "kippt". Beim Vortrag der Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Natalia Zaretskaya von der Universität Graz konnte das Publikum dies selbst erleben.

Über 300 Besucher beim Symposium Kortizes, Foto: © Brigitte Winkelmann

Über 300 Besucher beim Symposium Kortizes, Foto: © Brigitte Winkelmann

Weitgehend unbewusst und dennoch grundlegend für unser Dasein bilden sich unser Selbstverständnis als Person und die Rolle, die unsere Erzählungen über uns selbst dabei spielen. Dieses Themenfeld betrachtete anschließend die Philosophin Prof. Dr. Katja Crone von der TU Dortmund. So sei unser biografisches Selbstverständnis nicht allein durch Erzählstrukturen beschreibbar, sondern erfordere darüber hinaus den Blick auf weitere, ganz grundlegende Elemente, etwa das Empfinden, dass wir über Jahre hinweg dieselbe Person geblieben sind. Auch Körpergedächtnis und individuelle sensomotorische Fertigkeiten wie Tanzen oder Sport dürften hier eine Rolle spielen, sagte Crone.

Doch wie ist das Bindeglied zwischen subjektivem Erleben und neuronaler Aktivität beschaffen? Dieser Frage widmete sich der Philosoph Prof. Dr. Michael Pauen von der Berliner Humboldt-Universität. Eine zentrale Rolle nimmt dabei die Schmerzforschung ein. So hat sich das Schmerzempfinden im Verlauf der Evolution als sinnvoll erwiesen, weil es eine Vermeidungsreaktion gegenüber Gefahren auslöst. Andererseits, so Pauen weiter, können wir uns auf der Basis von rationaler Einsicht auch entscheiden, Schmerzen in Kauf zu nehmen, etwa bei unangenehmen medizinischen Eingriffen, die langfristig positive Auswirkungen haben. Die subjektive Qualität von Schmerzempfinden wissenschaftlich zu erklären, bleibt derzeit noch eine Herausforderung.

Den Schlusstag der Veranstaltung eröffnete am Sonntag, 6. Oktober, Prof. Dr. Jan Born von der Universität Tübingen mit einer Betrachtung über einen alltäglichen, nicht bewussten Zustand: den Schlaf. Dessen wichtigste Funktion sei es, Gedächtnisinhalte zu bilden, sagt Schlafforscher Born. Demnach werden im Schlaf unsere Gedanken und Sinneswahrnehmungen mit bereits bestehenden Gedächtnisinhalten in Beziehung gesetzt. Auf diese Weise entsteht erst der "Bewusstseinsstrom", der unser waches Erleben stetig begleitet. Versuche zeigten auch, dass sich Gelerntes besser ins Gedächtnis einprägt, wenn kurz darauf eine Schlafphase erfolgt. Während des Tiefschlafs wird die gelernte Information aus dem Hirnareal Hippocampus in den Neokortex übertragen. Das dort gespeicherte Wissen geht über einzelne Lerninhalte wie Vokabeln hinaus und unterstützt die Herausbildung abstrakter, regelhafter Konzepte.

Der abschließende Einzelvortrag lieferte eine Betrachtung des Unbewussten aus Sicht der Psychoanalyse. Sigmund Freud war es, der die Vorstellung von der Triebkraft des Unbewussten popularisiert hat, und seine Theorien wirken bis heute in der Neuropsychoanalyse nach. Der Ansatz verfolgt das Ziel, die klassischen Konzepte mit der modernen Neurowissenschaft zu verbinden. Auf welche Weise das geschieht, erklärte Prof. Dr. Tamara Fischmann von der Internationalen Psychoanalytischen Universität in Berlin. Wie etwa ihr Vorredner Ulrich Ansorge ging auch Fischmann davon aus, dass Bewusstes und Unbewusstes nicht gegeneinander arbeiten. Erst ihr Zusammenwirken mache uns zu dem, was wir sind, betonte sie.

Dieses Statement leitete direkt über zur abschließenden Podiumsdiskussion, an der Tamara Fischmann zusammen mit John-Dylan Haynes, Ulrich Ansorge und Michael Pauen teilnahm, Moderator war Helmut Fink. In einem Punkt herrschte Einigkeit unter den Diskutierenden: Das Rätsel des Bewusstseins zu klären, der Brückenschlag zwischen neuronalem Geschehen und subjektiv Erlebtem, bleibt künftigen Forschungen vorbehalten.

Riech-Experiment mit Prof. Dr. Jessica Freiherr: Bei zugehaltener Nase schmecken alle Fruchtbonbons gleich., Foto: © Brigitte Winkelmann

Riech-Experiment mit Prof. Dr. Jessica Freiherr: Bei zugehaltener Nase schmecken alle Fruchtbonbons gleich. Foto: © Brigitte Winkelmann

Umstritten ist jedoch, inwieweit die Psychoanalyse dazu beitragen wird, eine Theorie des Bewusstseins zu formulieren. Die Erfolgsaussichten für solch ein Projekt erscheinen zweifelhaft. So wies Moderator Helmut Fink auf die Anfälligkeit der Methode für vielfältige Fehler hin, die vielfach in Studien bestätigt sind.

Bleibt die Frage, ob die Erkenntnisse der Bewusstseinsforschung – so spannend sie auch sein mögen – überhaupt eine Relevanz für den Alltag besitzen. Mit einem klaren Ja positionierte sich hierzu Michael Pauen. Er verweist dazu auf die populistischen Strömungen der Gegenwart, die stark von unbewussten Gruppenprozessen geprägt sind. Je besser etwa die Sozialpsychologie das Zusammenspiel von Faktoren wie Zusammengehörigkeitsempfinden und empfundener Bedrohung von außen versteht, desto besser können wir diese gesellschaftlichen Entwicklungen verstehen.

Auf einen anderen Aspekt, die Herausbildung von Achtsamkeit im Umgang mit dem Gegenüber, wies Ulrich Ansorge hin. Dass Gefühle und Affekte für unser Bewusstsein von immenser Bedeutung sind, betonte auch Tamara Fischmann. Vielleicht gibt die fundierte Beschäftigung mit unbewussten Prozessen uns auch ein Instrumentarium in die Hand, um sinnvoll mit den Krisen und Katastrophen der Gegenwart umzugehen. Diesen Aspekt brachte abschließend John-Dylan Haynes zur Sprache. Angesichts der vielfältigen und einschneidenden Veränderungen – in Politik, Wirtschaft und bei Kulturtechniken wie KI – gehe es darum, Automatismen und Routinen aufzubrechen. Gewiss, einfach sei das nicht, räumte der Hirnforscher ein. "Was wir tun können, um da auszubrechen, sollten wir auch machen."

Übrigens: Schon jetzt steht das Thema des Symposiums Kortizes im nächsten Jahr fest. Unter dem Titel "Identität im Wandel" geht es von Freitag, 3. Oktober, bis Sonntag, 5. Oktober 2025, um Fragen und Forschungen rund um Neurowissenschaft und Identität.

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