Ein Interview mit Franz Josef Wetz über das Unverzichtbare in unversöhnlichen Zeiten

"Dieser undurchschaubare Wirrwarr darf durchaus gutgeheißen werden"

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Franz Josef Wetz
Franz Josef Wetz

Menschen sind nur als soziale Wesen denkbar und gleichzeitig brauchen alle auch Raum für sich allein. In seinem neuen Buch "WerteWirrWarr" befasst sich der Philosoph Franz Josef Wetz mit dieser "Doppelnatur" und erörtert, was politisch daraus folgt. Er stellt Fragen nach der Begründung von Solidarität, Ethik und Kultur; der hpd hat ihm dazu einige Fragen gestellt.

Martin Bauer: Ihr neues Buch heißt "WerteWirrWarr" – was ist denn so wirr, und an wessen Werten?

Franz Josef Wetz: In Wertefragen herrscht gegenwärtig ein ziemliches Durcheinander. Daran sei zunächst kein Anstoß genommen. Denn ein bunter Pluralismus ist typisch für eine Demokratie mit Offener Gesellschaft. So verstanden, beweist ein Wertechaos keineswegs, dass die Demokratie in einer Krise steckt, sondern vielmehr, dass sie funktioniert.

Allerdings kann man sich kaum noch des Eindrucks erwehren, dass in politischen Fragen immer extremere Positionen immer unversöhnlicher aufeinanderprallen. Dazu kommt, dass ständig neue Varianten linker, liberaler, konservativer und rechter Standpunkte zu entstehen scheinen. Diesen schließen sich die Menschen, von Tagesmeinungen und Social Media beeinflusst, oftmals nur für kurze Zeit an, bevor sie sich schnell wieder anderen Positionen zuwenden, die ihren momentanen Wünschen eher zu entsprechen scheinen. Die Bereitschaft zur dauerhaften Bindung ist in unserer mobilen Gesellschaft und schnelllebigen Zeit rückläufig. Der Konsens in der Mitte der Gesellschaft flaut ab. Aus alledem ergibt sich ein teilweise unübersichtliches, wildes WerteWirrWarr, für das zahlreiche Ursachen verantwortlich zeichnen.

Ein zentrales Thema ist das Verhältnis von individueller Glückssuche und dem gesellschaftlich-politischen Rahmen, in dem diese stattfindet beziehungsweise stattfinden kann. Wie würden sie das beschreiben?

Individuelle Glückssuche setzt Pluralismus voraus. Bei uns gibt es eine Vielfalt politischer Anschauungen, religiöser Bekenntnisse und praktizierter Lebensstile. Die Unterschiede in den Gepflogenheiten sind enorm. Wie gesagt, dieser undurchschaubare Wirrwarr darf durchaus gutgeheißen werden.

Jedoch werden Freiheit und Vielheit in diesen Zusammenhängen öfter als absolute Begriffe missverstanden. Sie sind aber nur relative Begriffe. Das heißt: Lediglich ein ethisch qualifizierter Pluralismus, der Freiheit und Vielheit auf rational nachvollziehbare Weise klare Grenzen setzt, ist nachweislich zweckmäßig, sinnvoll und human. Diese Grenzen werden nicht willkürlich gezogen, sondern so, dass sie überhaupt erst individuelle Freiheit und gesellschaftliche Vielheit ermöglichen. Dabei sind die unverzichtbaren Grenzzieher rational begründete Grund- und Rahmenwerte. Solche sollen den Pluralismus – nota bene – primär zu dessen Gewährleistung begrenzen. Es ist ein zentrales Anliegen des Buches, diese Grund- und Rahmenwerte aufzuzeigen. Hierbei wird deutlich, provokant formuliert: Auch die Offene Gesellschaft ist nur als eine Art geschlossene Gesellschaft möglich.

Geht es dabei nur um eine Zustimmung zu grundlegenden Werten oder um die Notwendigkeit aktiver Teilhabe?

Bloße Zustimmung genügt nicht. Das freiheitliche Gemeinwesen bleibt auf aktive Bürgerschaft angewiesen. Es hat nur solange Bestand, wie es mit der aktiven Unterstützung seiner Bürger rechnen kann. Der hemmungslose Individualist beispielsweise, von der liberalen Demokratie ermöglicht, droht gewissermaßen die Grundlagen seiner eigenen Lebensweise zu zerstören, wenn er gemeinschaftlichen Aufgaben gegenüber völlig gleichgültig bleibt. So bedarf die liberale Demokratie solidarischer Kollektive, das heißt: der freiwilligen Mitarbeit in selbst organisierten Gruppen, Verbänden, Parteien. Sie sollen und können Multiplikatoren der liberalen Demokratie, ihrer Grund- und Rahmenwerte sein – natürlich nur, wenn ihre Botschaften mit besagten Grund- und Rahmenwerten übereinstimmen.

In einem anderen Kapitel geht es um die Frage, unter welchen Voraussetzungen wir Bedürftigen Hilfe zuteilwerden lassen. Dabei setzen Sie sich auch mit dem "Effektiven Altruismus" auseinander. Welches Problem ist denn hierbei zu erörtern?

Im Kern geht es um Folgendes, und der Punkt hat durchaus Gewicht: Für die Effektiven Altruisten ist die katastrophale Lebenslage von Menschen das ethische Argument, das uns Bessergestellte zu aktiver Unterstützung streng verpflichtet. Aber sind wir tatsächlich ethisch verpflichtet, Notleidenden zu helfen, wenn wir für deren missliche Lage gar nicht verantwortlich sind? Ist unsere Hilfsbereitschaft in diesem Falle wirklich ethische Pflicht oder lediglich verdienstvolle, löbliche Mildtätigkeit? Was folgte daraus?

Sie werden – und das wohl zu Recht – als naturalistischer Philosoph wahrgenommen. In Ihrem neuen Buch vertreten Sie aber eine gewisse Unabhängigkeit von Ethik und Kultur. Könnten Sie Ihren Ansatz ganz kurz umreißen?

Ja, ich vertrete durchaus eine naturalistische Position. Deshalb finde ich das Wort "Unabhängigkeit" problematisch. Mir geht es um folgenden Nachweis: Selbst wenn alle Bereiche der Kultur, Politik, Ethik, Kunst etc. sich mit naturwissenschaftlichen Mitteln erklären und als Naturgeschehen beschreiben ließen, so stieße – paradox formuliert – der schrankenlose Naturalismus doch auf lebensweltliche Beschränkungen. Der Naturalismus hätte also selbst dann Grenzen, wenn nichts ihm irgendwelche Grenzen ziehen würde, wie ich anhand einer Reihe von Beispielen aus Politik, Ethik und Kultur im Buch demonstriere. Beispielsweise blieben wir auch als ohnmächtige Anhängsel der Natur sicherlich wie bisher an freiheitlicher Selbstbestimmung, politischer Mitwirkung, einem Leben in Selbstachtung und ohne Unterdrückung interessiert; wir unterschieden weiterhin zwischen gelingender und misslingender Lebensführung usw.

Ist Ihr Buch nun ein Diskussionsbeitrag in der aktuellen Wertedebatte oder geht es doch eher um einige grundlegende philosophische Fragen? Wenn ich es nicht falsch wahrgenommen habe, verweisen Sie seltener als sonst in Ihren Texten auf Literatur und philosophische Klassiker.

Es ist beides, und es zeigt, dass heterogene Positionen in der aktuellen Wertedebatte gelegentlich auch deshalb unversöhnlich aufeinanderprallen, weil nicht genau und differenziert genug reflektiert wird. Dadurch wird einmal mehr deutlich, wie wichtig doch Philosophie für das individuelle und gesellschaftliche Leben ist.

Franz Josef Wetz: WerteWirrWarr. Das Unverzichtbare in unversöhnlichen Zeiten, Aschaffenburg 2025, Alibri Verlag, 176 Seiten, 15,00 Euro, ISBN 978-3-86569-444-7

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