(hpd) Die Politikwissenschaftlerin Julia Gerlach legt mit „Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie. Verbieten oder Nicht-Verbieten?“ die erste umfangreiche Studie zum Thema vor und fragt darin nach den Einflussfaktoren einer Risikoperzeption des Extremismus und dem Spiel in der politischen Arena.
Mit diesem Werk schließt die Autorin eine Lücke in der bisherigen Forschung, überschätzt dabei aber die rationale Dimension bei der Entscheidung für ein Vereinsverbot.
Über ein Parteiverbot wird anhand der NPD in den letzten Jahren in unterschiedlichen Wellen mal mehr, mal weniger stark diskutiert. Demgegenüber findet die Praxis der Vereinsverbote weder in der öffentlichen Diskussion noch in der wissenschaftlichen Forschung nähere Aufmerksamkeit. In diese Forschungslücke stößt die Politikwissenschaftlerin Julia Gerlach mit ihrer Arbeit „Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie. Verbieten oder Nicht-Verbieten?“ Über deren Erkenntnisinteresse schreibt sie: „Ziel der Arbeit ist es, die Vereinsverbotspraxis nach der Vereinigung zu untersuchen. Ausgangspunkt bildet die Empirie, die mithilfe theoretischer Ansätze erklärt werden soll. Die Forschungsfrage lautet: Welche Faktoren konstituieren die Vereinsverbotspraxis in Deutschland nach 1990?“ (S. 20). Die Autorin ordnet ihre Studie dem Feld der Public Policy zu. Ihr geht es um die Untersuchung eines Politikprozesses, der für einen besonderen Umgang mit Organisationen aus den unterschiedlichen Bereichen des politischen Extremismus steht.
Nach der Einleitung mit Ausführungen zu Forschungsstand, Methode und Problemstellung geht es um die Konzeption der streitbaren Demokratie und deren Instrumente, wozu neben dem Vereinsverbot auch das Parteiverbot und die Verwirkung von Grundrechten gehören. Erst danach geht die Autorin auf ihr eigentliches Thema ein, wobei zunächst die Trends der Vereinsverbotspraxis nach 1949 und bis 2010 im Zentrum des Interesses stehen. Dabei unterscheidet sie Phasen des „Verbotsflusses“, der „Verbotspause“ und der „Verbotswelle“. Dem folgen ausführliche Kapitel mit Darstellungen und Einschätzungen zur Verbotspraxis gegenüber rechtsextremistischen, linksextremistisch kurdischen, linksextremistisch türkischen und islamistischen Organisationen. Diese Beispiele werden danach bezogen auf den politischen Prozess, der mit dem Umgang mit dieser Form der Repression gegen extremistische Organisationen einhergeht, hinsichtlich der Risikoperzeption gegenüber einem Gefahrenpotential und bezogen auf das Spiel in der politischen Arena untersucht.
Dabei kommt die Autorin zu folgenden Ergebnissen: „Politische Entscheidungsträger nehmen eine Risikoperzeption mit dem Ziel vor, Risiken für den demokratischen Verfassungsstaat zumindest zu kontrollieren, wenn nicht abzuwenden“ (S. 362). Im Vereinsverbot sehen sie ein unter Umständen – Gerlach geht auch auf nicht-verbotene Organisationen ein - angemessenes Mittel zur Abwehr vor Gefahren für die Demokratie. Darüber hinaus seien aber noch andere Gesichtspunkte für einschlägige politische Entscheidungen zu einem solchen Schritt bedeutsam: „Die Untersuchung zeigt, dass die Spielsituationen in der politischen Arena einen Einfluss auf (Nicht-) Verbotsentscheidungen des Bundesministers des Inneren oder seiner Amtskollegen auf Länderebene haben“ (S. 479). Die massiven Verbote gegen rechtsextremistische Gruppen ab 1992 und islamistische Organisationen ab 2001 fände in der Vereinsverbotspraxis ebenso seinen Niederschlag wie der deutliche Nicht-Verbotstenor bei deutschen linksextremistischen Organisationen.
Gerlachs Arbeit kommt das Verdienst zu, erstmals auf breiterer Grundlage eine umfangreiche Studie zur Vereinsverbotspraxis in der Bundesrepublik Deutschland vorgelegt zu haben. Sie macht bei der detaillierten Darstellung und Einschätzung auch kritisch Opportunität und Schieflagen deutlich. Mit ihrer Perspektive, die Handlungen der Politiker als Entscheidungsträger auf der Basis des „Axiom eines rationalen Akteurs im Sinne der Rational Choice Theory“ (S. 501) zu sehen, verkennt die Autorin aber die hohe politische und symbolische Dimension der Verbotspraxis. Diese macht sie bei den Fallstudien durchaus deutlich, heißt es doch etwa: „Die Verbotswelle gegen den Rechtsextremismus ist paradoxer Weise eine Reaktion auf Gewalt, die nicht primär von Organisationen ausgeht“ (S. 481). Mitunter besteht gar kein kausaler Kontext von ausgemachtem Problem und verbietbarem Verein. Gerade dieser Gesichtspunkt hätte in der Arbeit – über die Ausführungen zum „Spiel in der politischen Arena“ hinaus - ausführlicher behandelt werden können.
Armin Pfahl-Traughber
Julia Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie. Verbieten oder Nicht-Verbieten? (Reihe: Extremismus und Demokratie. Band 22), Baden-Baden 2012 (Nomos-Verlag), 570 S., 89 Euro.