Kinderwahlrecht - Unsinn oder Grundrecht?

Eine Frage, die den meisten Bürgern ziemlich egal ist, da sie über ihren Alltag und ihre Gewohnheiten hinausgeht.

Reflexionen zum bevorstehenden "Familienfest".

Es ist richtig: Kinder wurden und werden schon immer und überall von der demokratischen Wahl ausgeschlossen. Aber ist denn das, was schon immer und überall so war auch wirklich richtig und gut? Offensichtlich nicht. So war es z.B. vor gar nicht allzu langer Zeit noch selbstverständlich, dass Frauen nicht studieren, geschweige denn wählen durften. Auch das Wahlalter wurde im Laufe der Zeit verändert. Im Jahr 1970 wurde es von 21 auf 18 Jahre herabgestuft, obwohl die Volljährigkeit erst Jahre später herabgesetzt wurde. (Genau genommen durften demnach eine zeitlang tatsächlich „Kinder" wählen.). Die Straf- und Religionsmündigkeit beginnt heutzutage bereits mit 14, wobei die Strafmündigkeit sogar auf 12 Jahre herabgesetzt werden soll. Die Festlegung des Wahlrechtes auf 18 Jahre erscheint angesichts dieser Daten letztlich relativ willkürlich.

Tatsächlich ist das aktive Wahlrecht ein verfassungsmäßig verankertes politisches Grundrecht, das nur aus „zwingendem Grund" eingeschränkt werden kann.

Abgesehen davon, ab welchem Alter ein Mensch in der Lage ist, das Wahlrecht selbst auszuüben, stellt sich die Frage, ob es legitim ist, einer Person ein Grundrecht deswegen einfach ganz vorzuenthalten, weil diese ihre Interessen und Rechte nicht persönlich vertreten kann. Da damit grundlegende Interessen dieser Person unter die Interessen derer gestellt werden, die sich selbst vertreten können, widerspricht eine solche Praxis offensichtlich dem demokratischen und humanistischen Grundgedanken der gesetzlichen Gleichberechtigung aller Menschen.

Zwar erscheint die Unmöglichkeit, dass Babys und Kleinkinder eigenverantwortlich ihre politische Wählerstimme abgeben, zunächst als ein solcher „zwingender Grund". Befasst man sich allerdings genauer mit der Thematik, so entpuppt dieser sich jedoch schnell als wenig zwingend. So sieht das Gesetz in anderen Fällen, in denen das Wahlrecht nicht „höchstpersönlich" ausgeübt werden kann, Regelungen vor, die das Gebot der Höchstpersönlichkeit außer Kraft setzen. Bei der Briefwahl z.B. gibt es keinerlei Garantie für die höchstpersönliche und geheime Durchführung des Wahlaktes. Bei pflegebedürftigen Menschen ist es häufig sogar so, dass die zur Pflegschaft bestellte Person den Briefwahlschein ausfüllt. Eine Kontrolle, ob sie dies im Einvernehmen mit dem Pflegebedürftigen tut, gibt es keine.

Vor drei Jahren - am 12.9.03 - reichte die „Familienpartei Deutschlands", vertreten durch den Münchner Rechtsanwalt Kurt Merk, eine Klage gegen das bestehende Wahlrecht beim Bundesverfassungsgericht ein. Das Ziel dieser Klage ist es, einem „Wahlrecht ab Geburt" zum Durchbruch zu verhelfen. Konkret geht es hierbei darum, dass Kinder im Alter von 0 bis 18 Jahren gleichberechtigt mit Erwachsenen eine Wahlstimme bekommen.

Wie aber wäre das praktisch umsetzbar und wie begründen die Befürworter eines Kinderwahlrechtes ihr Anliegen? Ob eine Herabsetzung des Wahlrechtalers z.B. auf 16 Jahre sinnvoll ist, darüber kann man sich streiten, was aber soll ein Säugling bzw. kleines Kind mit einem Recht anfangen, das es selber gar nicht ausüben kann? In keinem demokratischen Staat ist ein Wahlrecht für Kinder vorgesehen. Bis zum Alter von 18 Jahren gilt ein Kind als unmündig und damit als nicht in der Lage, die eigenen sozialen Rechte und politischen Interessen in der Gesellschaft selbstständig zu vertreten.

Die Eltern sollten das Wahlrecht stellvertretend für das Kind ausüben, heißt es daher in der Wahlrechtsklage der Familienpartei - d.h. eine Familie mit Mutter, Vater und zwei Kindern hätte dann vier Wählerstimmen. Wie aber lässt sich das mit dem Grundrechtsgebot, dass die Wahl„höchstpersönlich" auszuüben ist, damit in Übereinstimmung bringen? Und wer kontrolliert, ob die Eltern auch wirklich im Interesse ihrer Kinder wählen, und entsteht dann nicht ein Ungleichgewicht, wenn jemand „nur" weil er Vater oder Mutter ist, mehr Stimmen abgeben darf als jemand, der keine Kinder hat, und sollte man nicht davon ausgehen können, dass die bisherige Regelung des Wahlrechtalters bestens durchdacht ist und daher ganz einfach ihre Richtigkeit hat und, und, und? So oder ähnlich lauten Fragen und wird argumentiert, wenn Menschen zum ersten Mal mit dem Thema Kinderwahlrecht konfrontiert werden.
Das Bundesverfassungsgericht sieht das anscheinend ähnlich. Das Bewusstsein einer Dringlichkeit, die Klage der Familienpartei zu verhandeln, besteht nicht. Jedenfalls wurde diese mit einer rein formalen Begründung und unter Vorenthaltung der eigentlich zuständigen Kammer ebenso abgelehnt, wie die anschließende Beschwerde der Familienpartei gegen diese Annahmeverweigerung.
Inzwischen liegt gegen diese Verweigerung eine Klage der Familienpartei vor dem europäischen Menschenrechtsgerichtshof vor.

Der Besitz eines Grundrechtes ist, so die Argumentation der Familienpartei, „unveräußerlich" und existentiell mit dem Menschen verbunden, wobei ein Recht gleichzeitig auch das Recht auf seine Ausübung beinhaltet. Dass ein Kind von Geburt an, bei der Ausübung seiner Rechte und damit auch seiner Grundrechte von seinen Eltern vertreten wird, ist gängige Praxis und gesetzlich legitim. Warum ist dies einzig beim Wahlrecht unmöglich? Angesichts der Bedeutung, die diesem Grundrecht in der Verfassung zugeschrieben wird, erscheint diese Frage durchaus angemessen.

Wenn ein Kind beispielsweise ein Mietshaus erbt, wird es auch persönlich Einkommensteuerpflichtig und zahlt damit neben der Einkommensteuer auch Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag, obwohl es - wegen formaler Geschäftsunfähigkeit - durch einen Vormund vertreten wird.

In der Diskussion um ein Wahlrecht für Kinder wird häufig übersehen, dass es hier nicht einfach um ein politisches Zugeständnisse an einen Teil der Bevölkerung geht. Hier geht es nicht um Bevorzugung, sondern um Gleichbehandlung.

Konkret geht es darum, zu prüfen, ob nicht ca. einem fünftel der deutschen Bundesbürger -allen Menschen von der Geburt bis zum vollendeten 18. Lebensjahr - ein Grundrecht vorenthalten wird bzw. positiv formuliert ob die Grundrechte ausnahmslos und gleichermaßen für alle Menschen, unabhängig von ihrem Alter gelten?

Wie aus einer im Oktober dieses Jahres herausgegebenen Neuveröffentlichung des Positionspapiers zu der am 12.9.03 von der Familienpartei Deutschlands eingereichten Verfassungsklage hervorgeht, setzt diese juristisch „an der die Menschenwürde verletzenden elementaren Aberkennung eines übergeordneten Grundrechts" an.

Dies ist die verfassungsrechtliche Argumentation für ein Kinderwahlrecht.

Anderseits kann aber durchaus auch gesellschaftspolitisch argumentiert werden.
So ist die Forderung nach einem Wahlrecht von Geburt an, wie die Hamburger Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit in einem Artikel für die „deutsche Liga für das Kind" betont, nicht parteipolitisch begründet. Sie entspringe vielmehr der gesellschaftspolitischen Erkenntnis, dass das derzeitige politische System zu einem Ungleichgewicht geführt hat, welches sich noch zuspitzen werde, wenn sich nichts ändern sollte.
Momentan stellen, gemäß dem Positionspapier der Familienpartei, Familien mit Kindern zwar 50 % der Bevölkerung aber nur 30 % der Wahlberechtigten. Rentner ab 58 Jahren wiederum machen 25 % der Bevölkerung aus, verfügen dabei aber über 40 % der Wählerstimmen.

Dieses Ungleichgewicht wird sich mit der zunehmenden Kinderlosigkeit auf der einen Seite und der zunehmenden Lebenserwartung auf der andern noch verschärfen. „Unser politisches System ist aus der Waage geraten" und wird immer weiter aus der Waage geraten, „wenn die politischen Geschicke allein von den so genannten Erwachsenen bestimmt werden, weil nur sie durch die Stimmabgabe an der Wahlurne die entsprechenden Aufträge vergeben, während die junge, nachwachsende Generation, die die Folgen dieser Entscheidungen jedenfalls mitzutragen haben wird, weiterhin nicht beteiligt wird", so Peschel-Gutzeit.

Bereits vor über 16 Jahren schrieb der 1990 verstorbene Jurist Dieter Suhr in einem in der Zeitschrift „Fragen der Freiheit" (Ausgab. 248) erschienen Artikel „Transferrechtliche Ausbeutung und verfassungsrechtlicher Schutz von Familien, Müttern und Kindern": „Unsere Demokratie beruht auf der Fiktion, dass das Volk nur aus Erwachsenen besteht. Familien und Eltern tragen zwar mehr Lasten und Verantwortung. Im Parlament aber haben sie angesichts der wachsenden Zahl von Alten und Kinderlosen immer weniger zu sagen".

Kinder haben keine politische Potenz in Form einer Wählerstimme. Ihre Anliegen und Interessen, sind im Gegensatz zu denen der immer mehr werdenden älteren Leute nicht von machtpolitischem Interesse für die Parteien, deshalb spielen die Interessen von Kindern und Jugendliche im politischen Geschehen nur eine untergeordnete Rolle.

Die Folgen der Nichtpräsenz von Kindern und Jungendlichen in der Politik werden immer deutlicher. Was mit der steigenden Kinderarmut in Deutschland, einem mangelhaften Bildungssystem, überfüllten Kindergärten und Schulen und schließlich Kindesmisshandlung beginnt, endet mit dem Rückgang der Geburten. Mit der Folge, dass die finanzielle Situation im Staat, die unter anderem für die Höhe und Sicherheit der Renten entscheidend ist, sich verschlechtern wird, denn, um es ganz einfach auszudrücken, die heutigen Kinder sind die Steuerzahler von morgen.

Ein Wahlrecht für Kinder, so die pragmatische Argumentation, würde dazu führen, dass eine familien- und kinderfreundliche Politik den Parteien machtpolitisch zugute käme. Denn nur eine Partei, die gewählt wird, hat die Möglichkeit, ihre Konzepte auch durchzusetzen. Eine kinderfreundliche Politik wiederum käme der Zukunft der Gemeinschaft zugute.

Anna Ignatius