Gegenreformation in der belgischen Politik?

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Jean-Michel Javaux / www.lesoir.be/mediastore

BELGIEN. (hpd) Wie in Frankreich war die Religion bis vor nicht allzu langer Zeit in Belgien eine Frage, welche die politische Landschaft scharf zerteilte: hier die christlich-katholischen Parteien (in Flandern, die CVP und in Wallonien, die PSC), dort die nichtkonfessionellen bzw. atheistischen liberalen und sozialistischen Parteien. Für deren Mitglieder gab es keine Grauzonen: Entweder man war gläubiger Kirchgänger oder man verabscheute die Kirche als Institution und war Freimaurer.

Eine erste Lockerung bekam diese klare Übersichtlichkeit durch das Aufkommen der auf Sprachentrennung orientierten nationalistischen und später der ökologischen Parteien. Diese hielten sich aber an das klare belgische Politikkriterium und vermieden sowohl individuell als auch kollektiv jeden Hinweis auf mögliche religiöse Auffassungen. Mit der Zunahme der linguistischen Konflikte ab Ende der 60er Jahren übernahm das Etikett der ethnischen Zugehörigkeit aber mehr und mehr die Rolle des Gottesglaubens als politischer Prüfstein. Sämtliche nationale Parteien spalteten sich in ethnische Gebilde, allerdings zunächst noch unter Aufrechterhaltung des religiösen Unterscheidungskriteriums.

Diese modifizierte, institutionalisiert-weltanschauliche Aufteilung bekam aber schnell ihre ersten Risse. Auf dem Hintergrund der europaweiten Krise des tradierten Parteienspektrums verloren die klassischen „Volks“parteien immer mehr Wähler. Insbesondere die christlichen Parteien wurden mit nicht mehr durch den religiösen Lack zu übertünchenden Skandalen und dem rasanten Rückgang der Kirchlichkeit konfrontiert. Sowohl in Flandern als in Wallonien / Bruxelles verschwanden sie von der Bildfläche und konstituierten sich zu neuen Parteien mit neu erfundenen Leitbildern und kuriosen Bezeichnungen. Leitbilder die, entsprechend der unterschiedlichen politische Kultur Flanderns (stärker religiös) und Walloniens (stärker säkular), anders ausgerichtet waren. In Flandern entstand die CD&V (Christendemokraten und Flandern), um so die konfessionellen Anhänger der bisherigen nationalistischen Partei (Volksunie) an Land zu ziehen. In Wallonien bezeichnet sich die frühere Christliche Volkspartei nun mehr sogar als CDH (Demokratisch Humanistisches Zentrum), um als eine wallonische Zentrumspartei am rechten Rand der Sozialisten und am linken Rand der Liberalen Wählerstimmen zu ernten. Oder breiter noch: Sie hat sogar eine kopftuchverkleidete Abgeordnete im Parlament.

Die Reaktion der anderen Parteien ließ nicht lange auf sich warten. In Flandern öffneten sich die antiklerikalen Parteien formell für die Gläubigen und nannten sich nun mit offenem Programm und diffuser Bezeichnung SP&A (Sozialistische Partei und Anders) und OVLD (Offene flämische liberale Demokraten). In Wallonien wurde aus der Liberalen Partei zunächst die PRLW (Partei der Reformen und der Freiheit in Wallonien). Nur die wallonischen Sozialisten behielten auf dem Hintergrund der dortigen starken sozialistischen Tradition ihren klassischen Namen: PS oder Sozialistische Partei. Das konnten die restlichen Parteien nicht auf sich ruhen lassen. Schnell wurde aus der Volksunie die NVA (Neue Flämische Allianz) und die FDF (Front der frankofonen) sowie die MCC (eine christlich soziale Splitterpartei), die sich mit den Liberalen zur MR (Reformistische Bewegung) verbündeten.

Natürlich waren nicht alle Politiker mit dieser neuartigen Focusering der Parteienlandschaft zufrieden. Es kam zur Gründung einer rechten liberalen Partei (Partei De Decker) und extrem rechter Parteien: die heutige VB (Vlaams Belang) in Flandern und die FN (Nationale Front) bzw. die populistische PP (Volkspartei) vom Fortis-Rechtsanwalt Modrikamen in Wallonien. Am Ende dieser Parteienwanderung war die Religion als traditioneller Leuchtturm der politischen Differenzierung formell verschwunden und keine Partei bezeichnete sich noch explizit christlich oder antiklerikal. Der lange Prozess der Säkularisation der Gesellschaft schien auch in Belgien politisch abgeschlossen zu sein.

Das galt scheinbar schon seit ihrer Gründung auch für die ökologische Parteien Groen und Ecolo. Bis Anfang Februar gerade aus der wallonischen grünen Partei Ecolo das versteckte Problem der religiösen Zugehörigkeit erneut offenbar gemacht wurde. Im Rahmen einer Enquete der Zeitung Le Soir mit der Überschrift „Jesus Crise“ (Jesus Krise) über den politischen Einfluss der Kirche heute, wurden die 20 einflussreichsten belgischen Katholiken gesucht. Und dort erschien überraschenderweise nach solchen Leuten wie der frühere Kardinal Daneels, der jetzige Kardinal André-Joseph Léonard, König Albert II, etc. aber auch Jean-Michel Javaux, Vizevorsitzender von Ecolo. Und dies noch vor allen Galionsfiguren der christlich verwurzelten Parteien.

Beispielbild
 Kardinalprimas Léonard
Auf den Hintergrund der Ergebnisse der Enquete, die an sich bereits bemerkenswert waren (siehe Anhang und Internet), gab Javaux daraufhin ein Interview. Er bestätigte dabei öffentlich seinen katholischen Glauben, indem er sich an Ereignisse erinnerte, welche die Suche nach dem Sinn seines Lebens provozierten und seinen katholischen Glauben festigten. Er rühmte sogar die intellektuellen Qualitäten vom neuen Primas Léonard, den er mit einem reinen Geist, und einer reinen, sehr differenzierten Intelligenz ausgestattet sieht. Er geht sogar soweit, wieder die altherkömmlichen elektoralen Waffen auf die Konkurrenz abzuschießen: So warf er z. B. der Vorsitzenden der CDH mangelhaften christlichen Glauben vor. Diese bezeichnete diese Äußerungen sofort als sehr schockierend wie beschämend und fügte im Sinn des neuen, scheinbaren belgischen Konsens hinzu: „Ich habe mir selbst immer untersagt, Religion und Politik zu mischen. Ich denke, Religion ist etwas viel zu Edeles, um für politische Zwecke verwendet zu werden...

Bei den wallonischen Grünen provozierte der Fall sofort eine scharfe interne Diskussion. Schon immer hatten sie sich gegen das Gerücht zu wehren, sie wären in Wirklichkeit U-Boote der christlichen Kirchen, da z. B. fast alle ihre Minister religiös orientiert sind. Dies umso mehr, da noch Anfang Januar Ecolo im Namen der weltanschaulichen Neutralität des Staates scharf reagierte auf die reaktionären Auffassungen des gegen den Willen der katholischen Basis neu eingesetzten belgischen Kardinalprimas Léonard. Dieser versucht jede Demokratisierung der Kirche zu unterdrücken und hat z. B. Homosexualität als abnormal charakterisiert - wovon er sich erst nach einer Klage wegen Diskriminierung mit viel religiöser Dialektik zu distanzieren versuchte. Gerade deshalb wurde Javaux auch aus seiner eigenen Partei scharf angegriffen. Dieser Sturm der Kritik nötigte ihn dazu, sich vom Angriff auf die CDH-Vorsitzende, Joëlle Milquet, zu distanzieren und seinen Widerstand gegen die ethischen Auffassungen Léonards zu bekräftigen. Er betont dabei aber, dass die Bekundung zum Glauben keine schändliche Krankheit ist. Eine Aussage die wiederum sofort Fragen nach der Position der Grünen in der Diskussion über das Kopftuchverbot und der Religion überhaupt aufwarfen.

Ist Javauxs Outing also der Start einer politischen Reconquista? Die Frage ist von solcher Aktualität, dass mit dem Outing von Javaux besonders im frankofonen Belgien sofort eine allgemeine Diskussion über den Stand der politischen Säkularisierung Belgiens startete. Die wichtigsten Fragen, die dabei gestellt wurden, sind u. a.: Ist sie eine Realität oder ist es nicht eher so, dass die Katholiken über diesen Weg in alle Parteien eingedrungen sind und das politische Belgien vor einer neuen „Gegenreformation“ steht? Hat nicht die defensive Offenheit der Laizität und des Humanismus den Katholiken alle Türe geöffnet, sodass die konservative Zeitung La Libre Belgique mit Recht triumphierend schlagzeilte: „Alle Parteien sind christlich!
Oder hat die christliche Religion sich vielleicht so „modernisiert“, dass sie ähnlich wie das neoliberale Gesellschaftsmodell völlig dereguliert zu einer Religion à la carte geworden ist?

Die Antworten auf diese Fragen differieren entsprechend des weltanschaulichen Standpunktes, kumulieren aber alle in der These, dass Belgien vor einer neuen politisch-ideologischen Wende steht.

Rudy Mondelaers