Vom Philosophieren mit Kindern

Zeigt sich hier nicht die Relevanz für naturwissenschaftliche Grundkompetenzen?

Genau. Ich habe an mehreren Schulen Kurse gemacht, in denen ich Naturwissenschaften und Philosophie miteinander kombiniert habe. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass bestimmte Fragestellungen, die z. B. auch Experimente einleiten oder begründen können, philosophischen Ursprungs sind, also Produkt einer philosophischen Auseinandersetzung mit bestimmten Fragen. Das gilt natürlich umso mehr, wenn dann die Ergebnisse bewertet werden. Das ist ohne philosophisch-ethische Kompetenz gar nicht möglich. Aber wo wird diese vermittelt, in der Schule, im Kindergarten? Da bietet das PmK einen Weg.

Eigentlich sollten ja ethische Grundkompetenzen in allen Unterrichtsfächern vermittelt werden. Praktisch sieht es aber so aus, dass diese Verantwortung auf wenige Fächer abgeschoben wird, vor allem auf den Religionsunterricht. Wo sehen Sie den Unterschied zwischen religiösen und philosophischen Ansätzen, auch in ethischen Fragen?

Beim Philosophieren wird in erster Linie selbstständig gedacht, es wird gefragt, es wird hinterfragt, es wird weitergefragt, das wären die drei Schritte des philosophischen Denkens. Und es geschieht ohne jegliches Dogma. Ich muss nicht an einen Gott oder eine andere höhere Instanz glauben, um mich mit der Welt, mit ethischen Fragen oder Werten auseinandersetzen zu können.

Das würde übrigens bedeuten, dass das Philosophieren auch Religion und religiöse Vorstellungen hinterfragt. Der Zweifel ist der Motor philosophischen Denkens. Würde man also Philosophieren als Unterrichtsprinzip betreiben, könnte man den gesamten Inhalt des Religionsunterrichtes hinterfragen. Das widerspricht natürlich dem Anspruch des Faches. Daher ist das Philosophieren als Haltung, als Methode, als Unterrichtsprinzip eine freie und eigenständige Variante des Denkens, die ich so im Religionsunterricht nicht gegeben sehe.

Wenn Sie die Kinder darin fördern, alles zu hinterfragen, nehmen Sie ihnen damit nicht das Gefühl der Sicherheit, der Geborgenheit in der Welt?

Ich würde es andersherum sehen, ich würde sagen: Kinder werden zunehmend verunsichert, weil sie aus verschiedenen Richtungen mit Lebensauffassungen, mit Weltverständnis konfrontiert werden, und es ihnen häufig an Voraussetzungen fehlt, diese selbstständig beurteilen zu können.

Das PmK schafft durch das Hinterfragen mehr Sicherheit bei der eigenen Beurteilung. Es befähigt die Kinder, durch Selberdenken schlau zu werden und nicht dadurch, dass ihnen von allen möglichen Seiten gesagt wird, wie die Welt aussieht, wie ihr Leben auszusehen hat. Es geht im Grunde genommen um Selbstständigkeit. Wobei ich nicht bezweifeln will, dass bei Kindern, die auf einer sehr festen und unerschütterlichen Grundlage erzogen worden sind, die ersten philosophischen Schritte auch Verunsicherung erzeugen können. Ich denke da z. B. an Fragen zu Sterben und Tod – Themen, die ohnehin mit Angst oder Unsicherheit besetzt sind. Sobald die Kinder merken – das ist die Erfahrung, die ich immer wieder mache – dass es vor allem auf sie und ihre Fähigkeit, Dinge denkend zu begreifen und zu erfassen, ankommt, verschwindet diese Unsicherheit zunehmend.

Der HVD bietet in einigen Bundesländern bereits Humanistische Lebenskunde als nicht-religiöse Alternative zum Religionsunterricht an, auch als Bekenntnisunterricht, wobei das Humanistische Bekenntnis sich gerade auch durch das ständige Hinterfragen auszeichnet. Wie beurteilen Sie die Rolle des PmK für Lebenskunde?

PmK ohne lebensweltlichen Bezug ist nicht vorstellbar. Kinder erkunden sich und ihre Welt im ersten Schritt des Philosophierens. Im zweiten Schritt gehen sie dazu über, Denkweisen kennenzulernen und auszuprobieren, sie ziehen sich verschiedene Denkkleider an und stellen fest, welches ihnen passt und welches nicht. Und der dritte Schritt des PmK ist immer auch der der Handlungsorientierung, also der Reflexion über den eigenen Lebensvollzug: Was könnte ich möglicherweise in meinen Handlungen aufgrund des vorhergehenden Nachdenkens über bestimmte Dinge verändern?

Das wäre für mich, wenn man den Begriff PmK nicht als unauslöschliches Markenzeichen festhalten möchte, auch so etwas wie Humanistische Lebenskunde, wenn man in diesen Schritten vorgeht. Insofern sehe ich inhaltlich ganz enge Beziehungen und denke, dass beides sich vortrefflich ergänzen würde, wenn die HLK sich weiter durchsetzen kann.

Mit Hans-Joachim Müller sprach Lutz Renken.
Veröffentlicht in: diesseits, Nr. 91/1020, Seite 8 ff.

 

Webseite von Philosophieren mit Kindern.
Hans-Joachim Müller im Video-Interview, Teil1 und Teil 2.