Islam und Rechtspopulismus

Salafistische Radikalisierung – und was man dagegen tun kann

Die Frage der Rückkehrer als potentielle Sicherheitsbedrohung in Europa wird in letzter Zeit sehr oft thematisiert. Aber die meisten Ausreiser, nach Syrien oder in den Irak gehen, haben mit dieser Gesellschaft schon abgeschlossen. Sie gehen, um dort in ihrer Vorstellung ehrenhaft zu sterben, für Allah, für das Paradies - sie haben gar nicht vor, zurückzukommen! Und die, die zurückkommen – das sind laut Verfassungsschutz momentan ca. 120 Menschen – bringen sehr unterschiedliche Erfahrungen mit.

Die eine Gruppe ist von ihren Kriegserfahrungen hochtraumatisiert und muss in der Psychiatrie oder zumindest in Psychotherapie behandelt werden. Dann gibt es auch die jungen Männer, die sich wichtig machen wollen. Sie sind für ein paar Wochen nach Syrien oder in den Irak gereist, um sich mit einer Kalaschnikow fotografieren zu lassen und die Bilder auf Facebook zu posten. Die dritte Gruppe kommt zurück, um hier zu rekrutieren und vielleicht auch Gewalt in Europa auszuüben: Das sind die gefährlichen Ideologen. Und sie sind auch nicht bereit, mit mir oder mit den Sicherheitsbehörden zu sprechen.

Aber viel gefährlicher und viel bedeutender als all diese Rückkehrer sind junge Menschen wie Paul und Mehmet, die hier in Deutschland geblieben sind, die die Werte dieser Gesellschaft ablehnen und die ihren Jihad hierzulande führen wollen. Doch die Gesellschaft scheint mit Jugendlichen wie ihnen überfordert. Wie erreichen wir Paul und Mehmet und ihresgleichen, bevor sie mit unserer Gesellschaft abschließen – oder bevor wir sie an einen brutalen Krieg verlieren?

Wieso radikalisieren sich junge Menschen?

Ahmad Mansour, Foto: Deutsche Islamkonferenz
Ahmad Mansour, Foto: Deutsche Islamkonferenz

Wenn wir effektive Konzepte entwickeln wollen, müssen wir uns grundsätzlich und ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, wieso sich junge Menschen radikalisieren.

Radikalisierung ist ein Prozess: es passiert nicht von heute auf morgen und auch nicht ohne unterschiedliche, manchmal komplexe Umstände. Dieser Prozess fängt häufig mit Entfremdung – einem psychischen Zustand – an. Die Jugendlichen sind unglücklich oder unzufrieden in ihrem Leben, sie haben oft wenige soziale Kontakte oder kein starkes soziales Umfeld; vielleicht haben sie auch einen gescheiterten Übergang von Schule zum Berufsleben erlebt oder sie haben eine frustrierende, erfolglose Suche nach einem Ausbildungsplatz hinter sich.

Bei muslimischen Jugendlichen kann es sein, dass sie Diskriminierungserfahrungen gemacht haben: Vielleicht bekamen sie das Gefühl, dass ihre Religion und Herkunft mit Vorurteilen betrachtet wurden. Aber wir reden hier nicht ausschließlich von muslimischen Jugendlichen oder Jugendlichen mit familiären Einwanderungsgeschichten. Bei allen Jugendlichen (muslimisch oder nichtmuslimisch, Jungs oder Mädchen), die in der Gesellschaft nicht angekommen sind, oder die das Gefühl bekommen, dass sie irgendwie nicht dazu gehören, gilt: kommen zu diesen Gefühlen instabile Persönlichkeitsstrukturen, entwickelt sich ein Zeitfenster von 1–2 Jahren, in dem sie für eine Radikalisierung sehr anfällig sind.

Aus mehreren Gründen kommt der Salafismus - eine fundamentalistische Strömung des Islam – bei diesen Jugendlichen sehr gut an. Das ist besonders der Fall unter den Jugendlichen, denen die Vaterfigur fehlt. Unabhängig davon, ob der Vater die Familie verlassen hat, ob er tot ist oder ob er sich selber in der Gesellschaft nicht zurechtfindet, die Salafisten füllen diese Lücke mit ihrer patriarchalen Ideologie und ihrem strafenden Gott.

Der Salafismus bietet Jugendlichen vor allem eine Identität an. Sie treten aus der schwierigen, postglobalen Welt in ein geregeltes, strukturiertes Umfeld ein und bekommen dort Sinn, Orientierung und eine Mission. Sie finden auch Freunde, Gemeinschaft, Zusammenhalt; endlich gehören sie zu einer Gruppe. Die Gruppe wird für sie eine Art Jugendkultur: es gibt einen Kleidungsstil, besondere Symbole, bestimmte YouTube-Kanäle und Facebook-Seiten und eine eigene Sprache, die die Salafisten aus sich immer wiederholenden Worten bilden: Subhanahallah, Mashaallah, Yaani, Heuchler, Achi… Der Salafismus erfüllt auch das Bedürfnis der Jugendlichen nach Information und Wissen. Er nimmt viele Unsicherheiten ab, indem er “Wahrheit” und Autorität anbietet (obwohl die meisten in Deutschland lebenden Salafisten keine religiöse Ausbildung gemacht haben und nur ein oberflächliches Argumentationsmuster kennen).

In diesen Gruppierungen müssen sich die Jugendlichen nicht mehr fragen, was sie anziehen sollen, wie sie sich gegenüber dem anderen Geschlecht verhalten sollen, wie ihr Lebensentwurf aussehen soll. Sie bekommen das Bewusstsein, auf dem “richtigen Weg” zu sein. Dazu bekommen sie die Möglichkeit zu Protest und Provokation gegen die Eltern oder gegen die Mehrheitsgesellschaft sowie die Chance, sich an einem “Kampf für Gerechtigkeit” zu beteiligen: “Die Muslime werden in Deutschland und weltweit unterdrückt; man muss sich dagegen wehren”. So lautet die salafistische Propaganda. Sie bekommen das Gefühl, dass sie missionieren müssen, um andere Menschen vor ihrem elenden Leben zu retten. Und für Jugendliche, die vorher vielleicht ihren Platz in dieser Gesellschaft nicht gefunden haben, ist das eine extrem attraktive Aufgabe.

Auch sehr anziehend ist die märchenhafte Welt, der die Jugendlichen durch den Salafismus begegnen: Engel, Dämonen (mit allerlei überirdischen Gaben), Hölle, Himmel, betörende Schilderungen des Paradieses – diese Welt wirkt auf manche Jugendlichen faszinierend.

Propaganda

Die Propaganda für den Salafismus ist raffiniert, weit verbreitet und im Internet fest verankert. Ganz leicht stoßen die Jugendliche auf hochemotionalisierende Inhalte, zugespitzte Botschaften, islamistische Kriegspropaganda. Sie sehen verstörende Videos, in denen wehrlose Kinder in muslimischen Ländern abgeschlachtet werden, und sie bekommen einen sehr einseitigen, pauschalisierten Eindruck von Konflikten, die immer auf einen Kampf der Ungläubigen gegen die Muslime reduziert werden. Diese Schwarz-Weiß-Welt, in der es immer klare Opfer und Feinde gibt, ist für die Jugendlichen deutlich zugänglicher als die komplexe, teilweise widersprüchliche Politik, über die in den Nachrichten berichtet wird.

Andere Videos sind nicht so emotionalisierend, aber genauso effektiv. Einige sind von Stil und Graphik her Videospielen sehr ähnlich - ein Format, mit dem viele Jugendliche vertraut sind. Damit wird der Krieg in Syrien und dem Irak als Abenteuer verkauft: Waffen, Adrenalin, Kriegsrausch. Andere Filme sollen zeigen, wie in Syrien und dem Irak nur nach der Scharia in einer Art Utopie-Gesellschaft gelebt wird, so dass man nur unter Muslimen – nur unter den Gläubigen – lebt, mit islamischen Restaurants, Apotheken, Kindergärten.

Offline treten die Jugendlichen mit islamistischen Predigern in Kontakt. Dies sind oft sehr charismatische Menschen, die sich für die Jugendlichen viel Zeit nehmen und sich zum Beispiel als Sozialarbeiter ausgeben. Sie nehmen die Jugendlichen ernst, reden mit ihnen über den Krieg und die Lage im Nahen Osten (ein Thema, was in der Schule kaum vorkommt) und sprechen vom Bürgerkrieg in Syrien als dem Endkampf zwischen Muslimen und Ungläubigen, einer Art Endzeitkrieg, aus dem die Muslime als Sieger hervorgehen werden.

Innerislamische Debatte

Um Radikalisierung effektiv zu bekämpfen, muss sich die muslimische Community aktiv in der Debatte engagieren und sich dabei ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, ob einige Inhalte, die im Mainstream-Islamverständnis vorhanden sind, die radikale Ideologie begünstigen.

Ausgrenzung, Entfremdung, die Pflege der Opferrolle, Aufwertung der eigenen Anhänger und Abwertung aller anderen, die Behauptung, die absolute und einzige Wahrheit zu besitzen, das Verbot, Aussagen zu hinterfragen, die Ablehnung neuer zeitgemäßer oder wissenschaftlicher Islaminterpretationen, die Tabuisierung der Sexualität, eine einschüchternde Pädagogik, die die Angst vor der Hölle über alles setzt, der Anspruch, auf alles eine Antwort zu haben und das Leben des Propheten buchstäblich nachahmen zu müssen – das alles sind Aspekte, die bei den Jugendlichen sehr gut ankommen. Der Salafismus bietet ihnen scheinbare Sicherheit durch eine glasklare Unterscheidung zwischen richtig und falsch.

Was die Sache schwierig und zugleich dringlich macht: Es geht hier um Aspekte, die in manchen Fällen zentrale Bestandteile des Islamverständnisses eines “Normal-Muslims” sind. Kontroll-orientierte Erziehungsmethoden, die auf Kollektivität und Respekt vor Autorität abzielen, wirken hier als Verstärker und begründen die Anfälligkeit von Jugendlichen für die Argumentationen der Salafisten. Mit ihren klaren Verhaltensvorgaben geben sie Halt und erleichtern scheinbar das Leben. Um radikale Strömungen einzudämmen, brauchen wir eine neue und ernsthafte innerislamische Debatte über solche Inhalte, um Alternativen zu schaffen und die Jugendlichen von Angst und Schuldgefühle zu befreien und ihnen zu ermöglichen, ihre Religion moderner und demokratischer leben zu können.