“Die satanischen Verse” – eine andere Art Offenbarung
Salman Rushdie, bis heute wunderbarerweise nicht getöteter Autor des Romans “Die satanischen Verse”, wurde in der ZEIT so zitiert: “Wenn ich nicht das Recht habe, wahrheitsgemäß über das Innenleben eines Menschen zu schreiben, der den Glauben verloren hat, dann können wir ja nichts mehr schreiben.”
“Die satanischen Verse”, mit ihrer komplex-komponierten Romanstruktur und magisch-realistischen Handlungssträngen, handeln zwar auch von der Geburt einer erfundenen Religion, von einem erfundenen Propheten (“Mahound”), einem erfundenen revolutionären Religionsführer im Exil, aber vor allem um Schicksal und Träume zweier indischer Immigranten in England, es sind dies die aus allen Wolken stürzenden Protagonisten Saladin und Gibril. Ähnlichkeiten mit Aspekten der Geschichte des Islams und Chomeini sind nicht zufällig, aber Rushdies Fiktion darf nicht naiv 1:1 in die “Wirklichkeit” rückübersetzt werden. Als literarische Fiktion darf man den Roman aufs Schärfste kritisieren, nicht aber als vermeintlich historisch verbürgte Aussagen über Koran, Prophet, Chomeini und tatsächliche Ereignisse.
Über Götter als Menschen reden
Davon abgesehen muss natürlich dennoch auch eine Historisierung und Fiktionalisierung des Islams erlaubt sein. Warum nicht “über Mohammed wie über einen Menschen reden”, merkt Salman Rushdie an. Und weitergedacht betrifft dies eben nicht allein den Islam: Über sogenannte heilige Schriften als Kerne weltumspannender Aberglaubenssysteme ist zu reden, über Götter als menschengemachte, als historisch-literarische Figuren darf und muss man sprechen.
Im Zweifel: Zweifeln!
Kein freiheitsliebender Mensch sollte sich also dazu hergeben, den Vollstreckungsexport inquisitorischer Todesurteile als Form der Buchbesprechung oder Redaktionsschließung zu akzeptieren. Im Wettstreit der Bücher haben sich die Mythen und Legenden der sogenannten heiligen Schriften mit jenen humanen Mythen und Märchen zu messen, die Rushdie und andere in der Kunst entwerfen.
Das Recht auf Meinungsfreiheit muss nicht nur geschützt, es will auch ausgeübt werden. Die Gegenwart des Zweifels ist überzeugender als die Glaubenssätze der Religionen. Die Kunst-Fantasien eines Rushdie, Scorcese, Achternbusch, Nagib Machfus, Theo van Gogh, einer Ayaan Hirsi Ali oder Taslima Nasreen, die Songs des Kölner Rappers Shahin Najafi oder die Karikaturen aus “Charlie Hebdo” sind gewiss nicht die Auslöser für Todesschüsse religiöser Eiferer, sondern das Gegengift, das diesen Schützen längst hätte verabreicht werden müssen.
Herrschaftsansprüche eines menschengemachten Textes über alle anderen müssen zurückgewiesen werden. Oder es wird wahr, was eine New Yorkerin nach der Fatwa gegen Salman Rushdie sagte: “Wir alle hier sind Geiseln.”
Das Verb “glauben” verträgt keinen Imperativ
Die Fantasie der Kunst bleibt ein Rest-Risiko für Machthaber. Sie hat sich vor Finanzkapital oder Staat, vor religiösen Dogmen oder konstruierten Sachzwängen nicht zu rechtfertigen. Im Übrigen: Nicht nur die Lästerung eines von unzähligen Göttern dürfte an die Persönlichkeitsrechte vieler Menschen rühren. Zu Beginn des 21. Jahrhundert haben wir es eher (und massenhafter) mit der Lästerung aufgeklärter Vernunft zu tun, werden täglich Intelligenz und Gefühl “ungläubiger Heiden” (Rushdie) von Seiten der Religionen verletzt.
Die Religionen werden lernen müssen, auch die Würde der Menschen zu respektieren, die ihnen in Taten und Gedanken nicht zu folgen bereit sind. Krude Inszenierungen religiöser Fantasien belästigen mich täglich, da werden doch wohl ein paar Rückfragen in Form fantastischer Gegenbilder erlaubt sein? Auch Rushdie hat schließlich einen Roman als Kunstwerk geschaffen und nicht etwa Gewalt ausgeübt oder eine Moschee angegriffen, er hatte nicht einmal die geringste Absicht den Besuch irgendeines Gebets- oder Kultraums zu behindern. Seinen Roman muss kein Gläubiger lesen. “Lies!”, das propagieren im Befehlsmodus nur Salafisten mit ihren Gratis-Koranen auf deutschen Straßen. Ich halte es da eher mit einem Satz des französischen Autors Daniel Pennac: “Das Verb ‘lesen’ verträgt keinen Imperativ.”
Auf religiöses Machtgehabe und gewalttätige Drohung lässt sich auf vielerlei Weise antworten: mit der subversiven Kraft der Kunst und des Lachens (wie in Umberto Ecos “Im Namen der Rose”), mit der Abschaffung des sog. Blasphemieparagrafen hierzulande, mit konsequent-argumentativer Religionenkritik, mit Freude am Leben und Mitgefühl.
Naives Trennen von Islamismus und einem wahren Islam
Der gewaltbereite, durchaus arbeitsteilig agierende Islam hat viele Wurzeln und Gesichter. Von Salafisten und IS zum Gottesstaatsterror des Iran, von Suren, ihrer Auslegung und der Scharia bis hin zu religiöser Indoktrination, von Djihad und saudi-arabischen Peitschenhieben für den “Ungläubigen” Raif Badawi bis hin zu allerhand militanten islamischen Strömungen, Gemeinden und Einzelpersönlichkeiten in Bradford, Köln oder anderswo. Führten die Biografien der Attentäter vom 11. September 2001 nicht auch nach Hamburg und ins Ruhrgebiet?
Angesichts der Fatwa gegen Rushdie und ihrer Folgen erscheinen manch aktuelle Diskussionen in der Nachfolge des Attentats auf die “Charlie Hebdo”-Redaktion bodenlos naiv. Als ob es überhaupt darum ginge, was Satire dürfe oder nicht dürfe. Es geht längst darum, was jeder freie Bürger, jede freie Bürgerin eines freien Landes, was jeder Künstler und Religionenkritiker darf und dürfen können muss.
Die Fatwa gegen Salman Rushdie ist nie zurückgenommen worden. Das könnte auch nur Chomeini selbst tun – im Rahmen einer Auferstehung, auf die ich gern verzichte. Die Fatwa wurde ganz im Gegenteil mehrfach bekräftigt, das auf Rushdie ausgesetzte Kopfgeld im September 2012 auf über 3 Millionen Dollar angehoben. Seit März 2002 – so kann man es in “Joseph Anton” nachlesen – lebt Rushdie ohne Personenschutz. Hoffen wir, dass es so ist – und bleibt.