Wie steht es denn um die Solidarität in der russischen Gesellschaft insgesamt, und auch zwischen den einzelnen humanistisch geprägten Gruppen?
Das ist schwierig. Was humanistische Überzeugungen und Werte angeht, sieht man wenig Solidarität vom Großteil der Bevölkerung. Fast 85 Prozent der Gesellschaft zeigt sich solidarisch mit den Gleichgesinnten des Kremls. Solange die Aktivitäten der Menschen nicht der Staatsideologie widersprechen, dann ist der Zuspruch und Zusammenhalt in der Bevölkerung ganz schön groß – auch wenn sich die Lebensqualität deutlich verschlechtert hat in den letzten Jahren, doch die Menschen kümmert das nur wenig. Es geht ihnen nur darum dem Westen zu beweisen, dass sie die "Besseren" und die "Stärkeren" sind.
In einem imaginären Krieg kämpfen sie gegen den Westen und seine Werte. Sobald sich einzelne Aktivisten und Andersdenkende, die für Menschenrechte, humanistische Werte, oder Einhaltung der russischen Verfassung kämpfen, zu Wort melden, stehen sie praktisch alleine da. Auch die Politik gibt solchen Menschen oder Organisationen nicht die Möglichkeit, sich zu entwickeln oder stärker zu werden. Sobald einige Aktivisten mehr Aufmerksamkeit von Seiten der Bevölkerung bekommen, wird ihnen schnell irgendein Urteil angehängt. So ist das auch bei den humanistischen und atheistischen Organisationen.
Wenn es um humanistische Werte geht, dann kommt man bei irgendwelchen Entscheidungen nicht um die Politik herum. Und dann ist es ein Problem. Denn die Beachtung der Menschenrechte und menschlichen Freiheiten sind ein wichtiger Bestandteil der humanistischen Weltanschauung, und genau das funktioniert in Russland nicht mehr. Die Verfassung wurde praktisch außer Kraft gesetzt, die meisten entsprechenden Paragraphen werden nicht mehr eingehalten. Wenn die russischen Humanisten sich aber zu irgendeinem aktuellen Problem äußern wollen, z.B. in einer Stellungnahme zu den Attentaten in Paris und "Je suis Charlie", dann wird erstmal lange diskutiert, ob sie das machen können und wenn ja, ob sie dann Probleme mit dem Gesetz bekommen.
Die Zusammenarbeit mit den Atheisten, Skeptikern oder mit der Good Sense Foundation funktioniert praktisch nicht, weil die letzteren versuchen, alle "schärferen" Fragen aus ihrer Arbeit auszuschließen. So ist jeder auf sich alleine gestellt. Die russischen Humanisten versuchen mit aller Kraft, sich noch über Wasser zu halten. Aber ob sie es denn wirklich schaffen, wird sich in naher Zukunft zeigen.
Erhalten die russischen Säkularen irgendeine Unterstützung aus dem Ausland?
Vor wenigen Jahren ist ein neues Gesetz in Kraft getreten, nachdem alle nichtstaatlichen Organisationen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland bekommen, als ausländische Agenten – oder einfacher ausgedrückt als ausländische Spione – gelten. Ob das nur ab einem bestimmten Betrag oder unbeschränkt gilt, das ist mir nicht bekannt, ich vermute aber das letztere.
Bei der RGO hat in den letzten Jahren fast nichts richtig funktioniert, es gab keine Mitgliedsbeiträge und damit hat sie ihren juristischen Status verloren. Nach langen Diskussionen haben sich die noch aktiven Mitglieder darauf geeinigt, wieder Mitgliedsbeiträge einzuführen, um wenigstens die Fortsetzung der Webseite der russischen Humanisten und die Mitgliedsbeiträge bei der IHEU bezahlen zu können. Wenn genug Geld zusammenkommen sollte, dann wird die jährliche Konferenz zum Humanistentag doch stattfinden können.
Das Zahlungssystem, durch welches die Mitglieder ihre Beiträge bezahlen können heißt Yandex.Money und ist ausschließlich für Einheimische zugänglich. Ich zähle z.B. als Mitglied der RGO, kann die Organisation aber nicht unterstützen, weil das Zahlungssystem keine Zahlungen aus dem Ausland ermöglicht. Ich habe mich etwas mehr informiert und anscheinend kann man als Ausländer eine Zulassung beantragen, wenn man eine ausführliche Information über die eigene Person zusammen mit Ausweisdaten und Informationen zum Wohnsitz an die Verwaltung von Yandex abschickt. Also alles sehr suspekt, denn man weiß ja nicht, wo die Daten letztendlich landen werden. Und ich bezweifle auch, dass jemand aus dem Ausland da mitmachen würde.
Bei der Good Sense Foundation sieht’s genauso aus, sie verwenden auch das Yandex-System. Somit ist die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland technisch gar nicht möglich. Was aber die nichtfinanzielle Unterstützung angeht, ist auch das schwierig. Jemand von der Moskauer Gruppe hat mehrmals versucht mit Hilfe der IHEU herauszufinden, was die RGO denn tun könnte, um aus dieser schwierigen Situation rauszukommen. Bisher leider vergeblich.
Worin könnte neben den finanziellen Problemen eine Lösung und dauerhafte Perspektive zur Verbesserung der Lage der russischen Humanisten liegen?
Das ist eine wirklich gute Frage. Wie ich schon sagte, hat die RGO ein großes Problem, überhaupt die Ziele ihrer Arbeit zu formulieren. Ich finde, genau da sollten sie anfangen. Da haben tatsächlich schon einige Mitglieder oder neue Interessenten gefragt, was denn nun die Aufgaben der Organisation sind. Dazu gibt es aber im Moment – und schon seit einigen Jahren – keine Dokumente. Die meisten Mitglieder haben Angst, dass sie sofort Probleme mit der Regierung bekommen, wenn sie aktiver werden.
Die Angst ist natürlich nachvollziehbar, aber ich bin der Meinung, dass die russischen Humanisten den Kampf mit der Krise verlieren werden, wenn alles so bleibt. Sie sollten anfangen zu handeln und nicht nur hinter ihren Bildschirmen sitzend miteinander zu diskutieren, wenn sich letztendlich nichts ändert. Sie sollten anfangen, sich im realen Leben zu treffen, ihre Ideen “live” zu diskutieren. Bei der Good Sense Foundation klappt das besser, weil sie sich vielleicht strickt auf den "Kampf" gegen die Re-Klerikalisierung konzentriert haben. Auf jeden Fall sollten die Humanisten nach einer engeren Zusammenarbeit mit der Good Sense Foundation streben.
Der Pflichtunterricht zu den Grundlagen der orthodoxen Religion an allen russischen Schulen ist eines der größten Probleme der Gesellschaft. Astronomie wurde ganz aus den Schulen "verbannt", und wie ich sagte, werden viele naturwissenschaftliche Fächer, aber auch kulturell bildende Fächer, von der orthodoxen Kirche zensiert. Die Kinder werden also von klein auf indoktriniert.
Ich finde, dass die russischen Humanisten in gemeinsamer Arbeit mit der Good Sense Foundation genau da, in den Schulen, anfangen sollten. Sie sollten dafür kämpfen, dass Ethikunterricht, wo auch humanistische Werte gelehrt werden, in die Schulen eingeführt wird und dass nicht eine spezielle Religion unterrichtet wird, sondern über die Religion allgemein und über ihren Einfluss auf die Geschichte informiert wird – ohne die "Gehirnwäsche", wie sie momentan in den Schulen stattfindet.
Sobald diese Ziele klar formuliert sind, und die ersten Arbeiten für die Realisierung der Ziele gemacht werden, würden die Humanisten und andere säkulare Organisationen deutlich mehr Gleichgesinnte anziehen.
Das Interview führte Arik Platzek.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung von seleya.net.