Humanisten, Säkulare und Skeptiker in Russland

Laut dem CIA Factbook sind etwa 20 Prozent der Bevölkerung Russland praktizierende Christen, rund zehn bis 15 Prozent Anhänger der islamischen Religion. Das Auswärtige Amt der Bundesrepublik benennt außerdem Judentum und Buddhismus. Wikipedia beziffert den Anteil von nichtreligiösen Menschen auf etwa 35 Prozent. Das sind stark variierende Zahlen, weisen aber doch auf eine gewisse weltanschauliche Vielfalt hin. Wie spiegelt sich diese in der Gesellschaft und den Medien Russlands wieder, z.B. in Bezug auf Muslime, Juden andere religiöse Minderheiten?

Die Zahl der 20 Prozent der praktizierenden Christen kann ich schwer glauben. Diesen Anteil der Religiösen könnte ich eher in die 90er Jahre einordnen. In den letzten zehn bis 15 Jahren hat er sich deutlich erhöht. Den Unterschied konnte ich beim Besuch in Russland 2010 deutlich spüren: Viele Menschen, die ich früher eher als nichtreligiös bezeichnet hätte, haben ihre Weltanschauung komplett geändert.

Was Muslime in Russland angeht – nun, das ist wirklich sehr interessant. Seit den vielen Konflikten mit kaukasischen Republiken, haben es die Muslime nicht leicht in Russland. Gläubige Orthodoxe akzeptieren nur schwer andere Glaubensrichtungen und Atheisten in Russland haben eine sehr radikale Einstellung gegenüber Muslimen, weil sie die Muslime mit Extremismus gleichsetzen. Das konnte ich auch in vielen atheistischen Online-Foren und den sozialen Netzwerken feststellen. Diese "radikalen" Atheisten würden am liebsten alle Muslime aus dem Land vertreiben.

Doch die andere Seite in Bezug zu den Muslimen zeigte sich nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo. Man konnte ein einzigartiges Paradox beobachten: man bekam das Gefühl, dass sich die russischen Muslime und Christen zusammengeschlossen haben, nur um den westlichen Werten entgegenzustehen. Die russischen Muslime kritisierten scharf Charlie Hebdo und "rechtfertigten" so quasi die Attentate und bekamen dabei enorme Unterstützung von der orthodoxen Gemeinschaft.

Aber auch die militärische Hilfe für Russland durch tschetschenische Soldaten im Krieg in der Ostukraine hat die Reibungen zwischen den Orthodoxen und Muslimen auf wundersame Weise etwas abgeschwächt. Und die neueste Meldung von den Muslimen klingt auch einfach unglaublich, ist aber wohl wahr: sie wollen eine neue Moschee bauen und diese nach Putin benennen. Das hat ihnen nun wieder einige "Pluspunkte" von den Orthodoxen eingebracht.

Also sobald die Muslime Meldungen kommen, die für die Regierung günstig sind, dann wird das in allen öffentlichen Medien ausführlich berichtet. Ansonsten ist die orthodoxe Kirche doch die deutlich dominante Religionsgemeinschaft in den Medien. Und allein in Moskau werden in einem neuen Projekt 200 neue orthodoxe Kirchen gebaut. Vor kurzem hat ein Duma-Abgeordneter sogar den Vorschlag gemacht, nicht 200 sondern 400 neue orthodoxe Kirchen in Moskau zu bauen.

Was die jüdische Minderheit angeht, nun, da ist die Lage nicht so extrem wie mit den Muslimen, aber unter Privatleuten hört man regelmäßig anti-jüdische Äußerungen. Ich würde nicht sagen, dass sie in der Öffentlichkeit diskriminiert werden, andererseits kann man aber im Staatsfernsehen in den Nachrichten sehen, dass z.B. die Duma-Abgeordnete Elena Mizulina meint, sie würde die Juden lieber verschwinden lassen.

Und dass es unter Orthodoxen viele gibt, die den Holocaust leugnen, ist nun leider auch eine Tatsache. Also, das ist eine sehr widersprüchliche und sehr schwer zu verstehende eigene Welt in Russland.

 

Und worin mögen nun die Ursachen für die massive Re-Klerikalisierung liegen?

Die Re-Klerikalisierung ist ein politisches Werkzeug. Die Regierung hat es sehr schnell verstanden: je größer der religiöse Einfluss in der Gesellschaft ist, umso einfacher ist es, diese Gesellschaft zu lenken.

Vor allem in den Provinzteilen Russlands, wo es massiven Drogen- und Alkoholmissbrauch gibt, versucht man die Rolle der Kirche dominant werden zu lassen. Das funktioniert dann durch viele Projekte, wie z.B. der Bau von weiteren hunderten orthodoxen Kirchen und der Gründung von religiösen Vereinen, die Drogenabhängigen ihre Hilfe anbieten. Diese Projekte haben wirklich eine unglaubliche Wirkung. Die Kirche ist sehr regierungsnah und das gewonnene Vertrauen durch die Kirche garantiert neue Wählerstimmen für die heutige Regierung. Die Kirche propagiert immer stärker traditionelle, orthodoxe – ich betone das immer wieder, weil andere Konfessionen, auch christliche, eher missachtet werden – Werte, was in den Menschen den Drang nach Freiheit und irgendwelcher Änderung ihres Lebens unterdrückt.

 

Könnte es auch damit zu tun haben, dass es die Menschen in Russland nicht gewohnt sind, sich um ihre weltanschaulichen Anliegen zu kümmern, weil das früher der kommunistische Staat gemacht hat?

Das ist richtig. Die Menschen in Russland haben leider nie gelernt, was es heißt, frei zu sein. Jahrzehntelange kommunistische Geschichte begleitet von vielen Repressionen hat die Menschen so sehr eingeschüchtert, dass auch die 90er Jahre das Verhalten und die Gewohnheiten der Menschen nicht richtig ändern konnten. Sie hatten wichtigere Sachen zu erledigen, als sich um ihre Weltanschauung zu kümmern. Die Menschen wussten nicht, was sie mit der neu erworbenen Freiheit anstellen sollten. Das was sie früher nur aus dem Fernsehen kannten, den Westen, konnten sie nun live erleben. Da hatte man wirklich keine Zeit sich mit den hochphilosophischen oder weltanschaulichen Fragen zu beschäftigen. Dann kam der neue Machtwechsel und die letzten Jahre erinnern nun wieder sehr stark an die alte Geschichte. Die Regierung hat schnell zwei Werkzeuge eingeführt, antiwestliche Propaganda und die Kirche mit den traditionellen Werten, um die Menschen zu beschwichtigen. Die Minderheit, die sich schon immer um ihre weltanschaulichen Ansichten kümmerte, wurde immer stiller.

Sich irgendwie aktiv zu zeigen, für die Menschenrechte einzusetzen, oder für demokratische Werte zu kämpfen, könnte die russische Regierung sehr schnell unzufrieden machen und das fürchten viele Menschen. Sie wollen einfach nicht ins Gefängnis.

 

Sie haben vorhin von Skeptiker-Gruppen in Russland gesprochen. Gibt es denn echte Organisationen wie die Gesellschaft für wissenschaftliche Untersuchung von Parawissenschaften oder das US-amerikanische Center for Inquiry in Russland?

Zur heutigen Zeit sind mir keine aktiven Zentren dieser Art bekannt. Bis vor einigen Jahren gab es tatsächlich eines, das ziemlich aktiv war. Gegründet worden war es unter anderem von dem ehemaligen RG-Präsidenten Kuvakin. Seine Hauptaufgabe war gegen die Pseudowissenschaften zu kämpfen.

In den 90er Jahren haben sich sehr viele pseudowissenschaftliche Gruppen und Aktivisten in der Gesellschaft verbreitet. Es gab viele Scharlatane, die sehr teure alternative "medizinische" Hilfe anboten, welche vielen Menschen schadete und zu vielen Todesfällen führte. Astrologie verbreitete sich auch sehr schnell. Viele Menschen machten immer häufiger ihre Entscheidungen von astrologischen Vorhersagen abhängig. Ich kann es zwar nicht mit genauen Zahlen belegen, aber aus meiner persönlichen Erfahrung heraus kann ich sagen, dass heute sehr viele Russen Astrologie für eine Wissenschaft halten.

Das Zentrum gegen Pseudowissenschaft war einige Jahre sehr aktiv, aber das Alter der Mitglieder war hoch und nachdem die meisten Mitglieder in die Rente gingen, konnten keine Nachfolger gefunden werden, die bereit waren, die Arbeit fortzusetzen. Damit wurde das Zentrum aufgelöst.

Die Moskauer Skeptiker-Gruppe ist zwar aktiv und die Menschen treffen sich öfter, um über aktuelle Themen in der Wissenschaft oder Pseudowissenschaft zu sprechen, aber es gibt keine Bewegung, die etwas gegen die stark verbreitenden Pseudowissenschaften oder Scharlatane unternehmen würde. Ich nenne mal ein Beispiel: Vor einigen Jahren gab es sogar eine tägliche Fernsehsendung im Staatsfernsehen, die alternative Methoden der Medizin verbreitete. Dann verschwand der Moderator für einige Monate, weil er der Scharlatanerie beschuldigt wurde und einige Monate später tauchte er dann wieder im öffentlichen Staatsfernsehen auf, in einem etwas geänderten Sendeformat.

Man findet heute viele Sendungen mit ähnlichen Scharlatanen, die über Astrologie, Heilkunde, übernatürliche Kräfte und "frühere" Leben berichten – und das alles im öffentlichen Staatsfernsehen zu Hauptsendezeiten! Es wird leider nichts dagegen unternommen.

 

Was ist mit Frauenrechtsorganisationen – gibt es hier noch relevante Institutionen?

Es gibt auch heute noch registrierte Frauenrechtsorganisationen. Es hat hier aber eine interessante Entwicklung gegeben: die Frauenbewegung hat eine lange Geschichte in Russland. Vor allem zu Sowjetzeiten war sie besonders stark, da das damalige Regime auch teilweise daran interessiert war, die Frauen in den Aufbau des sozialistischen Systems einzuschließen. In den 90er Jahren war es eher schwieriger für die Frauenorganisationen, da der Staat nicht in der Lage war, sie finanziell zu unterstützen. Und leider konnten sie es nicht schaffen, vom Staat unabhängig zu werden.

In den letzten Jahren hat der Staat immer mehr die religiöse Grundlage für diese Organisationen propagiert, was ja nicht so richtig mit dem Feminismus vereinbar ist. Man konnte somit eine Aufspaltung der Frauenbewegung beobachten: in eine, die sehr regierungsnahe ist und sich zwar für Frauen in Führungspositionen einsetzt aber auch traditionellen und orthodoxen Werten wirbt. Und die andere Richtung ist die feministische Bewegung, deren Handlungsfreiheit immer mehr eingeschränkt wird in letzter Zeit.

Die feministische Bewegung hat sich nun in die virtuelle Welt verschoben und findet jetzt hauptsächlich nur noch online statt. Es gibt Gruppen mit vielen Mitgliedern in sozialen Netzwerken, die versuchen ihre Ideen auf diese Weise zu verbreiten. In der realen Welt ist diese Bewegung aber praktisch ganz passiv geworden.