Mein Ende gehört mir!

Neben dem sozialen Druck beschwört Hüppe auch den familiären Druck. Die bestehenden Dienste des Vereins "Sterbehilfe Deutschland" werde die Kinder schwerkranker Menschen dazu ermuntern, ihre Eltern zu einer Freitodbegleitung zu drängen, nur um rascher an ihr Erbe zu gelangen. Doch vom familiären Druck gilt dasselbe wie vom sozialen Druck. So wie ein Patient subtil zu einer Hilfe bei der Selbsttötung gedrängt werden könnte, so könnte er auch subtil zu einem Abbruch lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen gedrängt werden. Es gibt jedoch keinerlei Indizien dafür, dass Kranke allein auf Druck ihrer Familie zunehmend ihre Dialyse beenden, ihre Chemotherapie abbrechen oder ihren Respirator abschalten lassen.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank-Ulrich Montgomery, wird dagegen nicht müde zu behaupten: "Die Palliativmedizin kann heute einem Sterbenden alle Schmerzen nehmen." Diese Behauptung ist jedoch falsch. Selbst führende Palliativmediziner wie Michael de Ridder oder Gian Domenico Borasio würden es nicht wagen, zu behaupten, dass ihre Zunft wirklich alle Schmerzen zu behandeln vermag. Vorsichtigen Schätzungen zufolge versagt zumindest in vier bis zehn Prozent der Fälle auch die beste palliativmedizinische Behandlung.

Die einzige palliativmedizinische Maßnahme, mit der sich buchstäblich alle Schmerzen bekämpfen lassen, ist die terminale Sedierung. Hierbei gibt der Arzt einem sterbenden und von Schmerzen gequälten Patienten kontinuierlich so starke Betäubungsmittel, dass er das Bewusstsein verliert. Ein auf diese Weise narkotisierter Patient wird tatsächlich keine Schmerzen mehr leiden und kann – vorausgesetzt man stellt jedwede Zufuhr von Nahrung und Flüssigkeit ein – in etwa ein bis zwei Wochen sanft entschlafen.

Doch was ist, wenn ein Patient nicht auf diese Art und Weise versterben möchte? Sicher, er mag die Möglichkeit, schmerzfrei zu entschlafen, durchaus begrüßen. Doch vielleicht graut ihm vor der Vorstellung, dass ihn seine Anverwandten dann noch über Tage hinweg langsam verenden sehen. Mit welchem Recht wollten wir ihm den Wunsch verwehren, sich von der "Sterbehilfe Deutschland" ein tödliches Medikament aushändigen zu lassen, mit dem er seinem Leben und Leiden sofort ein Ende setzen kann?

Der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering beklagt vor allem den vermeintlichen "Kult um die Selbstbestimmung". Er übersieht dabei aber vollkommen, dass er mit seiner Kritik an dem in der Verfassung verankerten Rechtsgut der Selbstbestimmung seiner eigenen Politik widerspricht. Schließlich verteidigt Müntefering die passive Sterbehilfe. Jeder Patient hat seiner Meinung nach das Recht, auf eine lebensverlängernde medizinische Maßnahme zu verzichten. Doch womit will er die Entscheidung eines Patienten, auf eine Chemotherapie zu verzichten, rechtfertigen, wenn nicht mit dessen Selbstbestimmung? Allein das Recht auf Selbstbestimmung gestattet es jedem Menschen, sich gegen einen ungewollten medizinischen Eingriff zu verwahren! Ja, allein das Recht auf Selbstbestimmung erlaubt es einem Patienten sogar, seinen Arzt bei Zuwiderhandlung wegen Körperverletzung zu verklagen.

Die Theologin Margot Käßmann meint: "Sterbende sollen an der Hand, nicht durch die Hand eines anderen sterben!" Offenbar erschließt sich ihr nicht einmal das Thema der gegenwärtigen Bundestagsdebatte. Darin geht es nicht um die strafbare "Tötung auf Verlangen", sondern allein um die straffreie "Beihilfe zur Selbsttötung". Und bei der Selbsttötung stirbt ein Mensch bekanntlich nicht "durch die Hand eines anderen", sondern "durch die eigene Hand".

Der Publizist Jakob Augstein schließlich verlangt Demut gegenüber unserem Schicksal: "Das Leben ist nicht beherrschbar, der Tod sollte es auch nicht sein." Offenbar weiß Augstein nicht, was er sagt. Wenn ein Aufbegehren gegenüber unserem Schicksal eine Anmaßung wäre, dürften wir nicht nur die Bedingungen, unter denen wir sterben, sondern auch die Bedingungen, unter denen wir leben, nicht verbessern.

Will Augstein etwa auch die moderne Medizin wegen ihres Mangels an Demut verurteilen und beispielsweise den Stab über die Anästhesiologie, die Chirurgie oder die Onkologie brechen? Wenn er die Organtransplantation und die Chemotherapie nicht in Acht und Bann tut, kann er aber auch den assistierten Suizid nicht in Bausch und Bogen verwerfen.

Augsteins Appell an die Demut macht nur vor dem Hintergrund eines religiösen Weltbildes Sinn. Der Einwand wäre dann lediglich eine Neuauflage des altbekannten christlichen Dogmas, wonach Gott der alleinige Herr über Leben und Tod sei und wir in der von ihm beschlossenen Stunde zu sterben haben.

Wie leicht zu erkennen ist, lässt sich diese Forderung aber nur schwer verteidigen. Denn wenn wir tatsächlich in der von Gott bestimmten Stunde sterben müssten, hätten wir nicht nur kein Recht, das Leben todgeweihter Menschen zu verkürzen, sondern auch kein Recht, das Leben todgeweihter Menschen zu verlängern. Schließlich schwingen wir uns nicht nur beim assistierten Suizid, sondern auch bei einer Bypass-Operation zum Herrn über Leben und Tod auf. Im einen wie im anderen Fall sorgen wir dafür, dass die Menschen nicht "in der von Gott beschlossenen Stunde" sterben.

Es ist daher auch nicht weiter verwunderlich, dass selbst Christen der Kirche ihren Gehorsam verweigern. Der an Parkinson erkrankte und von Blindheit bedrohte Theologe Hans Küng hat erst unlängst verkündet, dass er sein Leben voraussichtlich mit Hilfe einer Schweizer Sterbehilfeorganisation beenden werde. Er begründete diese Entscheidung mit dem Satz: "Ich will nicht als Schatten meiner selbst weiterexistieren."

Auch wenn es sich eigentlich von selbst versteht, sei nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Suizidbegleitung lediglich eine zusätzliche Option im Rahmen der verfügbaren Sterbehilfe darstellt. Jeder soll sterben können, wie er will. Niemand muss eine Sterbehilfeorganisation in Anspruch nehmen! Wer sein Leben beispielsweise als ein "Geschenk Gottes" betrachtet, über das er nicht selbst verfügen dürfe, dem bleibt es selbstverständlich unbenommen, auf seine Weise zu sterben.

Der alles entscheidende Punkt ist jedoch, dass in einem freiheitlichen Rechtsstaat niemand – weder die Regierung noch die Kirche – die Befugnis besitzt, anderen Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben und zu sterben haben. Wir mögen die Entscheidungen unserer Mitmenschen aus moralischen oder religiösen Gründen missbilligen. Doch solange sie mit dem, was sie tun, nicht die Rechte anderer verletzen, gibt es keine Rechtfertigung dafür, ihre Freiheit mit den Mitteln des Strafrechts einzuschränken.