Mein Ende gehört mir!

GIESSEN. (hpd) Bundesgesundheitsminister Gröhe fordert ein strafrechtliches Verbot der organisierten Sterbehilfe. Ein Argument, das eine Verschärfung unseres Strafrechts rechtfertigen könnte, ist er allerdings bis heute schuldig geblieben.

Seit Oktober letzten Jahres läuft eine bundesweite Kampagne mit dem Titel "Mein Ende gehört mir!" Diese von der Giordano-Bruno-Stiftung ins Leben gerufene Kampagne wendet sich gegen den von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe eingebrachten Vorschlag, jede Form der organisierten Sterbehilfe unter Strafe zu stellen.

Das deutsche Strafrecht steht in einer liberalen Tradition. Im Jahre 1871 hat es nicht nur die Strafbarkeit der Selbsttötung aufgehoben, sondern auch die "Anstiftung zur Selbsttötung" und die "Beihilfe zur Selbsttötung" für straffrei erklärt.

Mit welchem Recht, so muss man fragen, meint Hermann Gröhe nun das Rad der Zeit zurückdrehen zu dürfen? Gröhe glaubt, dass es "die Lebensschutzorientierung unserer Rechtsordnung" sei, die ein strafrechtliches Verbot von Sterbehilfeorganisationen gebiete.

Bevor sich Gröhe zu der Behauptung hinreißen ließ, dass Sterbehilfeorganisationen eine Gefahr für das Leben unserer Bürger darstellen, hätte er allerdings gut daran getan, zunächst einen Blick über die Landesgrenze zu werfen. In der Schweiz gibt es beispielsweise fünf Sterbehilfeorganisationen. Und niemand fühlt sich durch die Freitodhilfe, die sie leisten, bedroht. Als im Jahre 2011 im Kanton Zürich ein Volksentscheid stattfand, sprachen sich 84,5 Prozent der Bürger gegen ein Verbot der Freitodhilfe aus. Die überwiegende Mehrheit nimmt die bestehenden Sterbehilfeorganisationen nicht in Anspruch. Tatsächlich sterben jedes Jahr nur 7 von 1.000 Menschen durch eine Freitodhilfe. Doch die Schweizer sind tolerant: Auch wenn sie selber nicht daran denken, vom assistierten Suizid Gebrauch zu machen, fragen sie sich doch, welches Recht sie haben, ihn anderen vorzuenthalten.

Mit inzwischen über 80.000 Mitgliedern ist Exit die größte Sterbehilfeorganisation in der Schweiz. Die Mitgliedschaft kostet 45 Franken jährlich. Jedes Jahr erhält Exit etwa 2.000 Anfragen zu einer Freitodbegleitung. Davon werden im Durchschnitt 500 angenommen. Von den 500 Menschen, denen eine Freitodhilfe zugesagt wird, machen letztlich aber nur 300 Gebrauch. 200 Menschen genügt also das bloße Wissen, dass sie ihrem Leben jederzeit ein Ende setzen können, falls ihr Leiden unerträglich werden sollte.

Exit hilft nicht nur Menschen mit Krebserkrankungen, sondern bis-weilen auch Patienten, die unter einer chronischen Depression, beginnender Demenz oder der Alzheimerschen Erkrankung leiden. Voraussetzung dabei ist immer, dass die Betroffenen noch urteilsfähig sind. Über die Freitodbegleitung hinaus bietet Exit zudem noch eine Palliativpflege und eine Suizidprophylaxe an.

Die Erfahrungen aus der Schweiz widersprechen also eindeutig Gröhes Behauptung, dass Sterbehilfeorganisationen das Leben der Bürger gefährden. Gibt es irgendein anderes Argument, das eine Verschärfung unseres Strafrechts rechtfertigen könnte?

Im Zuge der aktuellen Debatte um die Sterbehilfe hat sich eine Vielzahl von Bedenkenträgern zu Worte gemeldet. Doch wie sich leicht zeigen lässt, ist keines ihrer Argumente geeignet, die Einführung eines neuen Strafrechtsparagraphen zu begründen.

Der frühere Bundesbeauftragte für Behindertenfragen Hubert Hüppe behauptet beispielsweise, dass die bloße Existenz einer Organisation wie "Sterbehilfe Deutschland e.V." einen nicht länger hinnehmbaren sozialen Druck auf Alte, Kranke und Behinderte ausübe, der sie dazu verleite, unfreiwillig aus dem Leben zu scheiden.

Gibt es irgendwelche Indizien für einen sozialen Druck auf alte, kranke und behinderte Menschen? Nein! Wenn uns eine derartige Entwicklung drohte, würde sie sich bereits heute bemerkbar machen. Patienten haben bekanntlich das Recht, lebenserhaltende medizinische Maßnahmen abzulehnen. Und es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sie mit Rücksicht auf die aus ihrer Behandlung entstehenden Kosten für unsere Gesellschaft auf eine Therapie verzichten.

Neben dem sozialen Druck beschwört Hüppe auch den familiären Druck. Die bestehenden Dienste des Vereins "Sterbehilfe Deutschland" werde die Kinder schwerkranker Menschen dazu ermuntern, ihre Eltern zu einer Freitodbegleitung zu drängen, nur um rascher an ihr Erbe zu gelangen. Doch vom familiären Druck gilt dasselbe wie vom sozialen Druck. So wie ein Patient subtil zu einer Hilfe bei der Selbsttötung gedrängt werden könnte, so könnte er auch subtil zu einem Abbruch lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen gedrängt werden. Es gibt jedoch keinerlei Indizien dafür, dass Kranke allein auf Druck ihrer Familie zunehmend ihre Dialyse beenden, ihre Chemotherapie abbrechen oder ihren Respirator abschalten lassen.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank-Ulrich Montgomery, wird dagegen nicht müde zu behaupten: "Die Palliativmedizin kann heute einem Sterbenden alle Schmerzen nehmen." Diese Behauptung ist jedoch falsch. Selbst führende Palliativmediziner wie Michael de Ridder oder Gian Domenico Borasio würden es nicht wagen, zu behaupten, dass ihre Zunft wirklich alle Schmerzen zu behandeln vermag. Vorsichtigen Schätzungen zufolge versagt zumindest in vier bis zehn Prozent der Fälle auch die beste palliativmedizinische Behandlung.

Die einzige palliativmedizinische Maßnahme, mit der sich buchstäblich alle Schmerzen bekämpfen lassen, ist die terminale Sedierung. Hierbei gibt der Arzt einem sterbenden und von Schmerzen gequälten Patienten kontinuierlich so starke Betäubungsmittel, dass er das Bewusstsein verliert. Ein auf diese Weise narkotisierter Patient wird tatsächlich keine Schmerzen mehr leiden und kann – vorausgesetzt man stellt jedwede Zufuhr von Nahrung und Flüssigkeit ein – in etwa ein bis zwei Wochen sanft entschlafen.

Doch was ist, wenn ein Patient nicht auf diese Art und Weise versterben möchte? Sicher, er mag die Möglichkeit, schmerzfrei zu entschlafen, durchaus begrüßen. Doch vielleicht graut ihm vor der Vorstellung, dass ihn seine Anverwandten dann noch über Tage hinweg langsam verenden sehen. Mit welchem Recht wollten wir ihm den Wunsch verwehren, sich von der "Sterbehilfe Deutschland" ein tödliches Medikament aushändigen zu lassen, mit dem er seinem Leben und Leiden sofort ein Ende setzen kann?

Der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering beklagt vor allem den vermeintlichen "Kult um die Selbstbestimmung". Er übersieht dabei aber vollkommen, dass er mit seiner Kritik an dem in der Verfassung verankerten Rechtsgut der Selbstbestimmung seiner eigenen Politik widerspricht. Schließlich verteidigt Müntefering die passive Sterbehilfe. Jeder Patient hat seiner Meinung nach das Recht, auf eine lebensverlängernde medizinische Maßnahme zu verzichten. Doch womit will er die Entscheidung eines Patienten, auf eine Chemotherapie zu verzichten, rechtfertigen, wenn nicht mit dessen Selbstbestimmung? Allein das Recht auf Selbstbestimmung gestattet es jedem Menschen, sich gegen einen ungewollten medizinischen Eingriff zu verwahren! Ja, allein das Recht auf Selbstbestimmung erlaubt es einem Patienten sogar, seinen Arzt bei Zuwiderhandlung wegen Körperverletzung zu verklagen.

Die Theologin Margot Käßmann meint: "Sterbende sollen an der Hand, nicht durch die Hand eines anderen sterben!" Offenbar erschließt sich ihr nicht einmal das Thema der gegenwärtigen Bundestagsdebatte. Darin geht es nicht um die strafbare "Tötung auf Verlangen", sondern allein um die straffreie "Beihilfe zur Selbsttötung". Und bei der Selbsttötung stirbt ein Mensch bekanntlich nicht "durch die Hand eines anderen", sondern "durch die eigene Hand".

Der Publizist Jakob Augstein schließlich verlangt Demut gegenüber unserem Schicksal: "Das Leben ist nicht beherrschbar, der Tod sollte es auch nicht sein." Offenbar weiß Augstein nicht, was er sagt. Wenn ein Aufbegehren gegenüber unserem Schicksal eine Anmaßung wäre, dürften wir nicht nur die Bedingungen, unter denen wir sterben, sondern auch die Bedingungen, unter denen wir leben, nicht verbessern.

Will Augstein etwa auch die moderne Medizin wegen ihres Mangels an Demut verurteilen und beispielsweise den Stab über die Anästhesiologie, die Chirurgie oder die Onkologie brechen? Wenn er die Organtransplantation und die Chemotherapie nicht in Acht und Bann tut, kann er aber auch den assistierten Suizid nicht in Bausch und Bogen verwerfen.

Augsteins Appell an die Demut macht nur vor dem Hintergrund eines religiösen Weltbildes Sinn. Der Einwand wäre dann lediglich eine Neuauflage des altbekannten christlichen Dogmas, wonach Gott der alleinige Herr über Leben und Tod sei und wir in der von ihm beschlossenen Stunde zu sterben haben.

Wie leicht zu erkennen ist, lässt sich diese Forderung aber nur schwer verteidigen. Denn wenn wir tatsächlich in der von Gott bestimmten Stunde sterben müssten, hätten wir nicht nur kein Recht, das Leben todgeweihter Menschen zu verkürzen, sondern auch kein Recht, das Leben todgeweihter Menschen zu verlängern. Schließlich schwingen wir uns nicht nur beim assistierten Suizid, sondern auch bei einer Bypass-Operation zum Herrn über Leben und Tod auf. Im einen wie im anderen Fall sorgen wir dafür, dass die Menschen nicht "in der von Gott beschlossenen Stunde" sterben.

Es ist daher auch nicht weiter verwunderlich, dass selbst Christen der Kirche ihren Gehorsam verweigern. Der an Parkinson erkrankte und von Blindheit bedrohte Theologe Hans Küng hat erst unlängst verkündet, dass er sein Leben voraussichtlich mit Hilfe einer Schweizer Sterbehilfeorganisation beenden werde. Er begründete diese Entscheidung mit dem Satz: "Ich will nicht als Schatten meiner selbst weiterexistieren."

Auch wenn es sich eigentlich von selbst versteht, sei nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Suizidbegleitung lediglich eine zusätzliche Option im Rahmen der verfügbaren Sterbehilfe darstellt. Jeder soll sterben können, wie er will. Niemand muss eine Sterbehilfeorganisation in Anspruch nehmen! Wer sein Leben beispielsweise als ein "Geschenk Gottes" betrachtet, über das er nicht selbst verfügen dürfe, dem bleibt es selbstverständlich unbenommen, auf seine Weise zu sterben.

Der alles entscheidende Punkt ist jedoch, dass in einem freiheitlichen Rechtsstaat niemand – weder die Regierung noch die Kirche – die Befugnis besitzt, anderen Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben und zu sterben haben. Wir mögen die Entscheidungen unserer Mitmenschen aus moralischen oder religiösen Gründen missbilligen. Doch solange sie mit dem, was sie tun, nicht die Rechte anderer verletzen, gibt es keine Rechtfertigung dafür, ihre Freiheit mit den Mitteln des Strafrechts einzuschränken.