Kein Platz für einen Schöpfergott

Es gibt in dieser Frage kein "sowohl als auch", wie es vatikanische Äußerungen vermuten lassen. Auf glauben-und-wissen.de steht z.B.: "Der verstorbene Papst Johannes Paul II. erklärte, diese Theorie, wonach die heute existierenden Lebewesen sich in einem komplizierten Prozess aus einfachsten Formen des Lebens entwickelt haben, sei nicht mehr nur als reine Hypothese zu betrachten. […] Zugleich betonte der Papst jedoch, der Mensch sei gemäß der Offenbarung nach dem Bild Gottes geschaffen worden, und dies sei 'eine der Achsen des christlichen Denkens'."

Fällt Gläubigen dieser Selbstwiderspruch wirklich nicht auf? Entweder ein Gott hat das Leben geschöpft - aus sich heraus durch seinen Willen hervorgebracht - oder das Leben ist Folge einer erst chemischen und dann biologischen Evolution. Da Letzteres, wie U. Kutschera überzeugend darstellt, nicht mehr zu leugnen ist, stimme ich seiner Schlussfolgerung zu, dass Evolution ein Faktum ist.

Das schließt jede "Schöpfungsinterpretation" der Religionen vollständig aus. Der Mensch ist Bestandteil des Tierreiches (Animalia), das sich vor ca. 3,8 Mrd. Jahren von unserem letzten gemeinsamen Vorfahren LUCA (Last Universal Common Ancestor = letzter gemeinsamer Vorfahre aller Organismen) vom Bakterien- (Monera), Algen- (Protoctista), Pilz- (Fungi) und Pflanzenreich (Plantae) abgespalten hat. Wir sind eben kein Eigentum eines eifer- und rachsüchtigen Sklavenhaltergottes, der uns nach Gutdünken in völlig unberechenbarer Beliebigkeit auch mal was Nettes zukommen lässt.

Das mit fast 250 neuen Illustrationen und Tabellen reichhaltig ausgestattete Buch "Evolutionsbiologie" bietet natürlich weit mehr, als eine sachlich fundierte Abrechnung mit dem Kreationismus. Es stellt eine außerordentlich gut systematisierte, anschauliche "Zeitreise zu den Ursprüngen des Lebens" dar. Der Autor nimmt auch Laien entschlossen an die Hand, um sie sicher durch das Labyrinth einer komplexen Materie zu leiten. So werden mit maßgebend neuen Fakten alle wissenschaftstheoretischen Grundlagen erörtert und das Darwin-Wallace-Prinzip mit den klassischen Evolutionsbeweisen sowie die Entwicklung vom Neodarwinismus bis zur erweiterten Synthetischen Theorie aufgezeigt.

Dies ist für jeden aufgeschlossenen Leser spannend, weil er an neuesten Erkenntnissen teilhaben darf, z.B. wie die chemische Evolution verlief, wie die erste Zelle entstand und wie sie sich entwickelte. Dank des "Tree of Life-Projects" (2003 erstmalig in der US-Zeitschrift Science vorgestellt) können wir eines Tages unseren Weg mit allen humanbiologischen Aspekten durch 3,8 Mrd. Jahre Evolution verfolgen. "Das Ziel des Projekts 'Der Baum der Organismen' ist es, ein einziges, gigantisches Phylogramm zu erstellen, in dem alle Lebewesen der Erde, ausgestorben und rezent, eingetragen sind." (S. 230)

U. Kutscheras Buch präsentiert aber auch neueste Ergebnisse der evolutionären Verhaltensforschung, Ethik und Psychologie. Hierzu sagte der Autor in einem aktuellen Interview mit Ramona Wagner: "Kollegen aus dem Beirat der Giordano Bruno-Stiftung (gbs), wie z. B. Volker Sommer, Collin Goldner, Rüdiger Vaas, Ekkehard Voland und Michael Schmidt-Salomon sind zitiert, und wichtige Thesen dieser Denker werden vorgestellt. Man könnte sagen, die Neuauflage ist ein gbs-Evo-Buch." Also ein in sich stimmiges Buch, das sich nicht nur hervorragend als Nachschlagewerk für alle Fragen zur Evolution des Lebens eignet.

Wer nach Lektüre dieses durchaus unterhaltsam, aber stets wissenschaftlich auf höchstem Niveau geschriebenen Lehrbuches noch immer die Meinung vertritt, es gäbe irgendwo in diesem Feuerwerk aus stichhaltigen Beweisen Platz für seinen bronzezeitlichen Schöpfergott, der will es nicht anders.

Trotzdem oder gerade deswegen lege ich U. Kutscheras "Evolutionsbiologie" auch jedem Gläubigen, der sich noch einen Rest Offenheit für Erkenntnis bewahrt hat, ans Herz. Er wird nämlich erfahren, dass die reale Entstehung unserer Lebenswelt weitaus wunderbarer und ehrfurchtgebietender ist, als dieses kleinliche, enge Weltbild, das manche Theologen aus Angst von Machtverlust mit leeren Formeln und ohne jeden Beweis am Leben erhalten wollen.

U. Kutschera bestreitet dabei niemandem sein Recht auf einen persönlichen Gottesglauben und grenzt diesen deshalb deutlich von der Realität ab: "... der Materialismus ist das solide philosophische Fundament, auf dem auch die Evolutionsbiologie ruht. Übernatürliche (supranaturalistische) Größen, wie z. B. Geister, Götter, Ideen usw. sind nicht Bestandteil der naturwissenschaftlichen Terminologie, da diese Begriffe auf Glaubenssätzen beruhen und nicht der erforschbaren (empirischen) Realität entstammen.” (S. 13) Deshalb ist es für ihn allerdings genauso unhaltbar, dieses "höhere Wesen" weiterhin als Schöpfer allen Lebens anzusehen.


U. Kutschera: Evolutionsbiologie – Ursprung und Stammesentwicklung der Organismen, 4. vollst. überarb. Auflage 2015, utb-Band aus dem Verlag Eugen Ulmer, Taschenbuch (17 x 24 cm), 382 Seiten, ISBN: 978–3–8252–8623–1, 34,99 Euro