Keine Sonderbehandlung für Gläubige

Die Rechtsnorm muss der Wirklichkeit angepasst werden

Und sogar jene, die längst allenfalls am Weihnachtsabend zur Messe gehen und keine Kirchensteuer mehr bezahlen, geraten ins Eiern, wenn es um den Paragrafen 166 geht. Es erweist sich, dass die Prägungen der Kindheit stärker fortwirken als die anstrengenden Ansätze zur Aufklärung. Ganz sicher ist man sich halt nicht, ob nicht doch ein Blitz einschlägt, wenn man das Recht auf freie Meinungsäußerung auch gegenüber der Religion und den Kirchen verlangt. Sie reden von Toleranz, meinen aber nicht Toleranz jenen gegenüber, die hinweisen auf von Geistlichen betriebene Konzentrationslager in Kroatien, auf den slowakischen Priester und Kriegsverbrecher Tiso, auf die Unterstützung von Todesschwadronen in Lateinamerika durch das vom Vatikan gedeckte Opus Dei oder auch nur auf Luthers Appell, die aufständischen Bauern totzuschlagen wie einen tollen Hund.

Die Zauderer bagatellisieren das Knebelgesetz unter anderem damit, dass es in der alltäglichen Praxis nicht angewandt werde. Das Argument ist nicht stichhaltig. Auch der Paragraf 175, der Homosexualität unter Strafe stellte, wurde in den letzten Jahren vor seiner Beseitigung 1994 kaum mehr angewandt. Trotzdem war seine Streichung eine Notwendigkeit. Sie hat Rechtssicherheit hergestellt. Es ist gerade rund fünfzig Jahre her, seit in Deutschland die Straftatbestände der Unzucht und des Ehebruchs abgeschafft wurden, die schon damals als absurd empfunden wurden. Wenn heute in Deutschland niemand wegen Blasphemie eingesperrt wird, dann ist es an der Zeit, die Rechtsnorm an die Rechtswirklichkeit anzupassen. Dies wäre, ganz nebenbei, ein Bekenntnis zur Tradition der Aufklärung anstatt zur Tradition von Inquisition und Hexenverbrennung.

Ein anderes Argument lautet, der Paragraf 166 wende sich nicht gegen die Beschimpfung von religiösen Bekenntnissen, sondern gegen die Störung des öffentlichen Friedens (im analogen Paragrafen 188 des österreichischen Strafgesetzbuchs ist, enger noch, von der Erregung eines "berechtigten Ärgernisses" die Rede, ohne dass präzisiert würde, was als Ärgernis zu gelten habe und wann es berechtigt sei). Wenn das denn so wäre – warum beschränkt sich der Gesetzestext nicht auf folgende Formulierung?

"Wer etwas unternimmt, was geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft."

An den Abriss von Bahnhöfen oder den Ausbau von Flugplätzen hat man bei dem Paragrafen 166 jedenfalls nicht gedacht.

Verstoß gegen Artikel 3 GG

Was "grundsätzlich" gilt, hat der Grüne Volker Beck immerhin klar ausgesprochen: "Gläubige brauchen grundsätzlich keinen anderen strafrechtlichen Schutz als andere soziale Gruppen." Die Formulierung verweist auf den Status quo, den zu ändern die Grünen den Zeitpunkt für falsch halten: Gläubige genießen einen anderen strafrechtlichen Schutz (und, so müssen wir ergänzen, andere Rechte) als andere soziale Gruppen. Der Paragraf 166 verstößt folglich gegen Artikel 3 des Grundgesetzes, wonach alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Eine Sonderstellung von Religion und Kirche ist mit Demokratie nicht kompatibel.

Im Übrigen sollte man sich keinen Illusionen hingeben: Diese mit Privilegien verbundene Sonderstellung wird noch lange erhalten bleiben, so wie die Sonderstellung von Aristokraten – etwa im diplomatischen Dienst – die Gründung der Republik nun schon fast ein Jahrhundert überlebt hat. Sie wird zementiert durch die Diskurshoheit, die sich die Kirchen und die Theologen überall sichern, bei Debatten zur Ethik sowieso, aber sogar bei Auseinandersetzungen über die Abschaffung des "Blasphemieparagrafen". In seinem "Einhorn" hat Martin Walser ebenso witzig wie zutreffend den obligatorischen Pater porträtiert, der bei keiner Podiumsdiskussion fehlen darf.

Mich hat der um mein Seelenheil besorgte katholische Religionslehrer am Gymnasium einst gefragt, was mich davon abhalten sollte, meine Eltern umzubringen, wenn ich nicht an die Höllenstrafe glaubte. So weit gehen modernere Religionslehrer wahrscheinlich nicht mehr. Aber wer schützt unsere Kinder vor der Beleidigung ihres Verstands, wenn ihnen von einer jungfräulichen Geburt oder von einem Leben nach dem Tod erzählt wird, an die man, anders als an die Lehren der Zeugen Jehovas oder von Scientology, nicht nur glauben dürfe, sondern solle? Und wer schützt Lesben und Schwule vor der Verunglimpfung durch den Vatikan, der eine Mehrheitsentscheidung für die Zulassung von Homo-Eheschließungen als “Niederlage für die Menschheit” bezeichnet? Müssen sie erst eine Kirche überfallen, damit der Staat zu der Überzeugung kommt, dass das Gerede des vatikanischen Staatssekretärs geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören?

Die paradoxe Wahrheit lautet, dass den Bekenntnissen von Agnostikern kein besonderer Schutz gewährt wird, weil sie den öffentlichen Frieden nicht stören – im Gegensatz zu den Pariser Attentätern, im Gegensatz zu amerikanischen Abtreibungsgegnern, im Gegensatz zu Anders Behring Breivik, der seinen Massenmord ausdrücklich religiös motiviert hat ("Das Christentum wird schleichend dekonstruiert. Es ist Zeit, dass der Papst und seine Kardinäle beginnen, der vorsätzlichen Dekonstruktion des europäischen Christentums entgegenzuwirken"), im Gegensatz zum Ku-Klux-Klan und im Gegensatz zu jüdischen Fanatikern, die mit Berufung auf die Religion und mit dem Segen von Rabbinern Palästinenser und auch den israelischen Ministerpräsidenten Rabin getötet haben. Sie zahlen einen Preis für ihr zivilisiertes Verhalten: Man darf sie ungestraft beschimpfen.


Nachveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autoren.