Die theologische Aufrüstung 1933 bis 1945

Kriegspredigten 1914 bis 1918

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"Trauerndes Elternpaar" von Käthe Kollwitz auf dem Soldatenfriedhof in Vladslo
"Trauerndes Elternpaar" von Käthe Kollwitz

GRAZ. (hpd) Um die NS-Ideologie inhaltlich überhaupt verstehen zu können, müssen wir auf die geistige, moralische und religiöse Aufrüstung im ersten Weltkrieg sehen. Und wir müssen auf die großen Ideologien blicken, die im 19. Jahrhundert von den Eliten der Gesellschaft aufgebaut worden sind.

Die Gründer der NS-Partei und ihre frühen Anhänger hatten diesen Krieg erlebt, sie hatten dort die moralische Desensibilisierung erfahren. Sie hörten regelmäßig die Reden der Offiziere und der Feldprediger beider Konfessionen. Dort wurde ihnen gesagt, dass im Krieg das Tötungsverbot aufgehoben sei, dass eine Moral im höheren Licht gelte, dass sie keine moralischen Skrupel haben dürften, dass im Krieg alles erlaubt sei, was dem eigenen Heer einen Vorteil bringe. Ohne diese moralische Desensibilisierung und Verwahrlosung ist die ganze NS-Ideologie überhaupt nicht verständlich. [1]

Am Tag der Mobilmachung, dem 1. August 1914, schrieb der Nobelpreisträger und Philosoph Rudolf Eucken, der beginnende Krieg verfolge edle Ziele, deswegen werde er dem Volk einen sittlichen Aufschwung bringen. Es gehe um die Selbstverteidigung des deutschen Volkes, ja um die Verteidigung und Durchsetzung des deutschen Geistes in ganz Europa. Dieser "gerechte" Krieg läutere und erhebe die Seelen der Menschen, denn die deutschen Soldaten kämpften nicht aus Hass und Raubgier, wie die Franzosen, sie verfolgten vielmehr edle Ziele. Von nun an sei der deutsche Geist reif, die Welt zu gestalten; das englische Nützlichkeitsdenken müsse hingegen überwunden werden. Die Deutschen seien ein Volk der Unendlichkeit und in der Philosophie des Idealismus verwurzelt. Es seien die Deutschen die "Seele" der ganzen Menschheit, geformt durch Meister Eckhart und Martin Luther. [2]

Ab sofort müssten alle Deutschen im Krieg zusammenstehen, denn der "deutsche Genius" werde den Sieg über die Feinde erringen. Die Deutschen hätten die besten Physiker, Chemiker, Biologen, Techniker, Generäle; daher seien sie unbesiegbar. Ja der Sinn der Weltgeschichte liege jetzt im Sieg des deutschen Geistes über den "Ungeist" der Slawen, der Franzosen und der Engländer. Der Kampf gelte ab sofort der schwächlichen Demokratie mit ihrem Absinken in Unvernunft und Verzweiflung. Daher sei es die heilige Pflicht aller Deutschen, den Feinden zu trotzen und sie niederzuringen. Eine stabile Gesellschaft könne nur hierarchisch geordnet sein. Die Anschauungen der rationalen Aufklärung von der Gleichheit aller Menschen, von der Freiheit des Denkens und von der Demokratie führten in den Untergang der ganzen Kultur. Daher sei es die Aufgabe der deutschen Heere, die hohe Kultur der Reformation und des Idealismus weltweit zu verbreiten. [3]

Die Kleinschriften der bekanntesten Philosophen und Theologen wurden zu Kriegsbeginn an alle Offiziere und Feldprediger verteilt. Gebildete Offiziere erhielten eine Neuausgabe von F. Nietzsches Buch "Also sprach Zarathustra" mit in den Krieg. Auch der protestantische Theologe Ernst Troeltsch verfasste mehrere Kleinschriften für die Feldprediger. Auch er schrieb zu Beginn des großen Krieges, nun sei ein Existenzkampf aller Deutschen in Gang gekommen, doch der Gott Jahwe ziehe mit den deutschen Heeren. Wenn ein fester Glaube, das Vertrauen auf Gott, die Hoffnung auf den Sieg und die Tapferkeit die Soldaten begleiteten, dann würden sie unbesiegbar sein. Der Kampf gelte jetzt den Tücken der Slawen, der Rachegier der Franzosen, dem Knechtsgeist der Russen und dem Liberalismus der Engländer. Damit erhebe sich die deutsche Volksgemeinschaft, um die Moral der Menschen zu stärken und alles Weichliche und Weibische abzustreifen. [4]

Ab sofort stünden die Deutschen in einem apokalyptischen "Weltbrand", aber sie seien von einer höheren Vernunft geleitet. Sie folgten dem Ruf der göttlichen "Vorsehung", mit ihnen sei der "Herr der Heerscharen". Jetzt müssten alle Pazifisten im Land niedergerungen werden, denn mit weichlicher Humanität sei kein Krieg zu führen. Die Zeit der liberalen Selbsttäuschungen sei zu Ende gekommen. Mit "Eisen und Blut" (Bismarck) müsse jetzt gegen die dekadenten Lebenswerte der rationalen Aufklärung vorgegangen werden, die sich in England und in Frankreich verbreitet hätten. Von nun an glaubten die Deutschen, dass ihnen der "Herr der Geschichte" eine Weltmission anvertraut habe, zum Wohle der ganzen Menschheit. Der Glaube an die göttliche Weltregierung sei unverzichtbar, denn der deutsche Geist habe jetzt einen heiligen Auftrag zu erfüllen. Daher müssten die Soldaten über viele Tote und Leichen gehen, alle moralischen Bedenken müssten sie ablegen. Gott wolle die Härte der Krieger, alles Weichliche müsse ausgemerzt werden. [5] – Ganz ähnliche Ideen finden sich dann elf Jahre später in Hitlers Buch "Mein Kampf" (1925).

Doch Ernst Troeltsch fuhr fort: Durch den großen Krieg geschehe die nationale Menschwerdung des göttlichen Weltgeistes, von der der Theologe G.W.F. Hegel gesprochen hatte. Über Moral dürfe im Krieg gar nicht diskutiert werden, denn es gehe einzig um den Sieg. Die unbedingte Liebe zum Vaterland gehöre zum deutschen Wesen. Jetzt sei ein "Kulturkrieg" gegen die westliche Zivilisation im Gang. Die Tyrannei der vielen Parteien und der freien Presse werde im Krieg aufgehoben; alles Denken werde gleichgeschaltet und auf den großen Sieg ausgerichtet. Die deutsche Form der Freiheit sei nämlich auf Gehorsam und Pflichterfüllung gelenkt, sie brauche keine allgemeinen Menschenrechte. Heute gehe es immer noch um den Kampf gegen die Ideen der Französischen Revolution. Im Krieg erfolge die Wiedergeburt der deutschen Nation. Der Krieg brauche die Hinwendung zur Religion und zur Metaphysik, anders sei der Sieg nicht zu erringen. Alle Theologen und Prediger müssten jetzt "Kriegsarbeit" leisten, an den Fronten und in der Heimat. [6]