Die theologische Aufrüstung 1933 bis 1945

Kriegspredigten 1914 bis 1918

Heute fällt auf, dass viele Lehren der NS-Ideologie aus Kriegspredigten von 1914 bis 1918 stammen. Das heißt aber kulturgeschichtlich gesehen, dass die moralische Aufrüstung für den großen Krieg in der Zeit von 1918 bis 1933 nur kurz unterbrochen war, ja dass sie in den nationalistischen Parteien ab 1919 direkt weiter ging. Denn in A. Hitlers Buch "Mein Kampf" finden sich auffallend viele Ideen von E. Troeltsch fast wörtlich wieder. Dasselbe gilt von anderen Schriften früher NS-Ideologen. Nun stellt sich die Frage, bei wem die moralische und geistige Verantwortung dieser gewaltverherrlichenden Ideen liegt: Nur bei ihren Vollstreckern, wie wir bisher dachten, oder auch schon bei den Vordenkern dieser Ideen und Programme? Denn es kann nicht sein, dass dieselbe Idee bei den Theologen als hohe Theologie gilt, bei anderen Autoren aber als teuflische Lehre der Hölle bewertet wird. Kurz gesagt: Die NS-Ideologie hatte viel mehr Vordenker, als bisher angenommen wurde. [7]

Auch andere Theologen schrieben fast unisono, der große Krieg sei ein Glück für das deutsche Volk, denn er beende den moralischen Niedergang und den schleichenden Nihilismus. Die Deutschen trügen jetzt die Flamme des heiligen Glaubens gegen die Barbaren im Osten und gegen die "Überkultur" im Westen. Die Engländer übten hingegen Verrat am Germanentum, denn sie kämpften mit den Franzosen. Allein die Deutschen verteidigten jetzt das germanische Erbe. Gewiss sei der Krieg ein göttliches "Gericht" über die Völker Europas, aber er sei für die Menschen auch ein "Gnadengeschenk" zur Läuterung der Seelen. Die Soldaten müssten bereit sein, ihr Leben aus Liebe zum ganzen Volk hinzugeben, denn ihre Seele lebe im Himmel Gottes und in der Erinnerung des Volkes weiter. So schrieb der Theologe Adolf von Harnack, die Opfer des Blutes würden durch die heilige Religion verklärt und überhöht. Deswegen müssten die Soldaten mit freudiger Zuversicht in den Kampf ziehen und den Heldentod auf sich nehmen. Sie dürften nicht an ihrem Leben hängen, denn sie glaubten an die Auferstehung bei Gott. Sie sollten mit Paulus von Tarsos rufen: "Tod, wo ist dein Stachel?" [8]

So schrieben verbeamtete Theologen und Philosophen vom sicheren Schreibtisch aus, denn sie mussten nicht in den Krieg ziehen. Sie hatten ihre alten Lehren vom gerechten und heiligen Krieg seit Jahrhunderten in ihren Schubladen und Schreibtischen; damit motivierten sie auf allen Seiten der Fronten Millionen Soldaten zum großen Töten und Morden. Es waren aber nur die Eliten der Gesellschaft, die mit Begeisterung zum großen Krieg riefen; die Bauern und die Arbeiter folgten ihnen zumeist mit großen Ängsten und Sorgen, wie wir aus vielen Zeugnissen wissen. Wir erkennen, dass die große Ideologie des Krieges schon 1914 bis 1918 eng mit den Lehren der Religion verbunden war. Vor allem der Glaube an die Auferstehung war eine überaus starke Motivation, um im Krieg das Leben zu riskieren. Die Frage stellt sich, ob ohne religiöse Aufrüstung die Kampfkraft der Soldaten nicht schon viel früher erschöpft gewesen wäre. [9]

Auch der katholische Theologe und Priester Joseph Mausbach aus Münster schrieb zur religiösen Aufrüstung der Soldaten. (Nach dem Krieg wurde er ein Mitglied der Weimarer Nationalversammlung bei der Abfassung der Weimarer Reichsverfassung.) Er sah 1914 den beginnenden Krieg als einen gerechten und heiligen Krieg, denn jetzt beginne für die Deutschen ein großer "Tag des Herrn"; das göttliche Gericht gehe über alle Völker Europas hinweg. Ab sofort brächen nun aus dem Volk alle segnenden und opfernden Kräfte hervor, es entstehe damit ein unwiderstehlicher Strom der Macht. Die deutschen Soldaten kämpften mit liebender Gesinnung gegen ihre Feinde, sie verachteten den Tod, wie es uns Jesus gelehrt habe. Der Wille der Feinde müsse gebrochen werden, denn auch sie müssten sich wieder in die Gemeinschaft der Gottesfurcht und der Gemeinschaft einordnen. Wenn sie von den deutschen Heeren besiegt würden, dann geschehe dies zu deren eigenem "Heil", denn sie seien von den Wegen Gottes abgewichen. [10]

Die Liebe zur Menschheit habe immer auch einen strengen und heroischen Zug, denn echte Liebe müsse auch strafen und wehtun, ja sogar Wunden schlagen. Der Friede Jesu gelte nur den Menschen mit gutem Willen, doch die Feinde der Deutschen seien vom guten Weg Gottes abgewichen. Dieser Krieg geschehe aus Notwehr, er sei den Deutschen aufgezwungen worden. Deswegen würden die Soldaten mit reinem Herzen das Schwert ergreifen, sie kämpften für ihr christliches und germanisches Erbe. Die Verletzung der belgischen Neutralität sei moralisch erlaubt, denn es gehe um ein höheres Ziel. Das Tötungsverbot (5. Gebot) sei im Krieg aufgehoben, jetzt gelte eine Moral im höheren Licht. Der Krieg könne die Moral der Menschen wieder stärken, diese habe nämlich in der langen Friedenszeit schon stark gelitten. [11]

Durch den langen Frieden seien die Menschen faul und lebensverliebt geworden, sie hingen am Leben und strebten nach vollem Genuss, auch in der Sexualität. Aber nun schwinge der Krieg seine Geißel und zerstöre das Lügengewebe der Selbstliebe und das Schreckgespenst der Überbevölkerung. In dieser großen Zeit erlebten die Soldaten wieder den "Adel des Todes", der innere Mensch werde gestärkt. Die Frauen würden die Männer beneiden, weil sie selbst nicht den Heldentod für das Vaterland sterben dürften. Sie müssten jetzt ihre aufreizende Mode ablegen. Der graue Feldrock des Kaisers mache alle Menschen gleich. Wie Gold so werde das ganze Volk im Feuerofen des Krieges geläutert, daher sollten die Katholiken den Protestanten in der Liebe zum Vaterland nicht nachstehen. Von nun an hätten die Soldaten die göttliche Vollmacht bekommen, zu segnen und zu strafen, über Tod und Leben der Feinde zu entscheiden. Alles Menschliche und Irdische müsse vor dem göttlichen Auftrag verblassen. [12]

Der edle Krieg sei ein großer Kreuzzug gegen die Unmoral der Feinde; die katholischen Soldaten sollten ruhig und gefasst in den Tod gehen, gestärkt mit den heiligen Sakramenten. Sie dürften nicht an ihrem leiblichen Leben hängen, denn sie glaubten ja an die Auferstehung bei Gott. – Mit solchen Lehren aber haben die Theologen die moralische Sensibilität der Soldaten völlig zerstört. Nun war im Krieg alles erlaubt, was der eigenen Gruppe einen Vorteil brachte. Die Soldaten sollten "den Tod geben und den Tod nehmen", genauso wird es Heinrich Himmler zwei Jahrzehnte später für seine Schutzstaffel (SS) vorschreiben. – Die Lehren vom edlen Krieg wurden nicht nur an den Fronten verkündet, sie wurden im ganzen Land auch von allen Kanzeln gepredigt. Als im Herbst 1917 über Friedensverhandlungen geredet wurde, riefen 95 Prozent der protestantischen Pfarrer in Berlin von ihren Kanzeln: "Sieg oder Untergang". Damit machten auch die Theologen Friedensverhandlungen unmöglich; es musste bis zum Zusammenbruch der Front gekämpft werden. [13]

Im Grunde gingen all diese Kriegslehren im zweiten Weltkrieg unverändert weiter; die Kirchenleitungen hatten jetzt das Bündnis mit dem NS-Staat geschlossen. Wieder mussten die Feldprediger und Militärpfarrer den großen Krieg bis zum bitteren Ende mittragen. Bei genauer Hinsicht waren diese Lehren im heiligen Buch der Bibel offenbar gut abgesichert, denn Jahwe galt lange Zeit als ein Gott der Krieger. Deswegen predigten die Feldpfarrer bei den Engländern, den Franzosen, den Amerikanern und teilweise auch bei den Russen ganz ähnlich. Die christliche Religion war zu einer großen Kriegslehre aufgelaufen. Sie legitimierte jetzt das große Töten über fünf Jahre hin. Die pazifistischen Stimmen und die Kämpfer im Widerstand hatten dagegen keine Chance, sich Gehör zu verschaffen. Nicht nur Atheisten und Skeptiker, auch viele Laienchristen sahen in diesem Vorgang aber den endgültigen Zusammenbruch der christlichen Reichs- und Herrschaftsreligion. Diese war zu einer infantilen Religion des blinden Gehorsams degeneriert, wie später Emmanuel Levinas feststellte. [14]

(wird fortgesetzt)

[1] A. Grabner-Haider, Hitlers Theologie des Todes 64–90.

[2] R. Eucken, Die sittliche Kraft des Krieges. Berlin 1914, 3–7.

[3] R. Eucken, Die weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Geistes. Berlin 1914, 8–12.

[4] E. Troeltsch, Die Erklärung der Mobilmachung. Heidelberg 1914, 7–10.

[5] E. Troeltsch, Deutscher Glaube und Deutsche Sittlichkeit in unserem großen Kriege. Berlin 1914, 11–15.

[6] E. Troeltsch, Deutscher Geist und Deutsche Sittlichkeit 12–22.

[7] A. Grabner-Haider, Hitlers Theologie des Todes 110–114.

[8] A. von Harnack, Aus der Friedens- und Kriegsarbeit. Gießen 1916, 149–152. K. Flasch, Die geistige Mobilmachung. München 2000, 77–92.

[9] A. Grabner-Haider, Hitlers Theologie des Todes 115–126.

[10] J. Mausbach, Vom gerechten Krieg und seinen Wirkungen. In: Hochland 12 (1914) 5–12.

[11] J. Mausbach, Vom gerechten Krieg und seinen Wirkungen 2–13.

[12] J. Mausbach, Vom gerechten Krieg und seinen Wirkungen 7–12.

[13] H. Münkler, Der große Krieg 229–241.

[14] A. Grabner-Haider/P. Strasser, Hitlers mythische Religion 177–194.