BERLIN. (hpd) Die deutsche Hauptstadt erlebte am Samstag eine der größten Demonstrationen seit Jahren. Bei strahlendem Herbstwetter wurde friedlich gegen das geplante und im geheimen verhandelte Freihandelsabkommen TTIP demonstriert.
Die Polizei sprach von 150.000 Teilnehmern, die Veranstalter gar von 250.000, die gegen TTIP und CETA demonstrierten.
Der Demonstrationszug durch die Berliner Innenstadt war so lang, dass die Ersten bereits am Platz der Abschlusskundgebung angekommen waren, als die letzten noch nicht einmal losgegangen waren. Am Hauptbahnhof, dem Startpunkt der Demonstration und Ort der Startkundgebung, hielten zeitweilig keine S- und U-Bahnen mehr: es passte niemand mehr auf den Bahnhofsvorplatz und die Demonstranten standen eng im Bahnhof. Allein fünf Sonderzüge sowie mehr als 600 Busse brachten Teilnehmer aus dem gesamten Bundesgebiet nach Berlin.
Christoph Bautz von der Bürgerbewegung Campact sagte später: "Dies ist die größte Demonstration, die dieses Land seit vielen, vielen Jahren gesehen hat."
Der Hauptzug der Demonstranten zog dann zweieinhalb Stunden an mir vorüber. Später bestätigte eine Polizistin, dass es aus Sicherheitsgründen mehr als diese eine Demonstrationsstrecke gegeben habe. Auf der Fussgängerbrücke zwischen Regierungsviertel und dem Bahnhofsvorplatz baten Polizisten freundlich mehrfach, diese aus Sicherheitsgründen zu räumen.
Es fiel auf, dass es nicht nur die Menschen waren, die man immer bei politischen Demonstrationen sieht. Dieses mal waren Familien dabei, die noch nie bei einer Demonstration mitgemacht haben. "Ich haben einen kleinen Familienbauernhof," sagte mir ein etwa 30-jähriger, "mit den Großkonzernen kann ich einfach nicht mithalten."
Zwischen Familienfest und politischem Zorn
Die Bandbreite der Proteste war ebenso gewaltig wie die mitgeführten Plakate kreativ. Auch wenn sich manche Politiker, Journalisten und Unternehmer dazu versteigen, den Demonstranten vorzuwerfen, sie hätten "keine Ahnung", wogegen sie protestieren: Gerade das Verheimlichen der Verhandlungen zwischen der EU und den USA über das TTIP-Abkommen macht die Menschen so wütend. "Es ist einfach nur undemokratisch, was da passiert" meinte eine junge Frau, "wenn mir jemand sagen könnte, was genau TTIP werden wird, dann wäre ich vielleicht heute zu Hause geblieben."
Etliche Demonstranten wiesen auch auf Ihren Plakaten auf den Zusammenhang zwischen der aktuellen Flüchtlingswelle und der Wirtschaftsmacht Europa/USA hin.
Einige wenige SPD-Fahnen waren in der Demonstration zu sehen. Und das, obwohl der Parteivorsitzende, Kanzlerstellvertreter und Wirtschaftsminister Siegmar Gabriel am gleichen Tage einen offenen Brief veröffentlichte (als ganzseitige Anzeige in einigen Zeitungen), in dem er TTIP verteidigt. Zwar fordert er kosmetische Änderungen am Freihandelsabkommen, bleibt aber weiter dabei, dass TTIP der deutschen Wirtschaft gut tut. Es sagt in dem Brief, an die Bürger und Bürgerinnen gewandt: "Sie haben die Öffentlichkeit und die Politik aufmerksam gemacht. Sie haben für deutlich mehr Transparenz in den Verhandlungen gesorgt." Worin allerdings die Transparenz besteht, wenn die Verhandlungsunterlagen nicht einmal von den Bundestagsabgeordneten vollständig eingesehen werden dürfen, verrät Gabriel darin nicht.
"Wir haben hier recht vernünftige Arbeitnehmergesetze. Doch mit TTIP wird es den Gewerkschaften so gut wie unmöglich, für die Rechte der ArbeitnehmerInnen einzustehen." Der als Ver.di-Mitglied erkennbare Mann ist wirklich wütend. "Hast du eine Ahnung", fragt er mich, "wie Gewerkschaften in Amerika funktionieren?" Er bläst in seine Trillerpfeife und geht weiter. Hinter ihm taucht der Wagen von digitalcourage mit der "Datenkranke" auf. Padeluun liest Ausschnitte aus dem jüngst gekippten “Safe Harbor”-Beschluss der EU-Kommission vor.
Tango gegen TTIP
Auf der Kronprinzenbrücke tanzen zu argentinischen Tangoklängen Paare gegen TTIP.
In der Reinhardtstraße hingegen wurde zu den Klängen von "Always Look On The Bright Side Of Life" (mit TTIP-kritischem Text) gesungen und getanzt. Häufig blieb der Zug hier stehen und die Teilnehmer pfiffen den bekannten Song aus "das Leben des Brian" mit. Im Zug hörte man Kampflieder ebenso gesungen wie Songs von Seeed und sogar eine kleine Life-Band musizierte auf einem der Demonstrations-Fahrzeuge.
Politisches Signal
Fast eine Viertelmillion Menschen, die gegen die Freihandelsabkommen demonstrieren, sollten am Samstag ein deutliches Signal gesetzt haben. Der Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Hubert Weiger sagte: "Investoren müssen das Recht beachten und dürfen nicht Sonderrechte beanspruchen". Die hier angesprochenen privaten Schiedsgerichte, die nach Wunsch der TTIP-Befürworter jede demokratische Regel außer Kraft setzen sollen und das Recht der Konzerne über das der Allgemeinheit stellen sollen sowie die Verhandlungen im Geheimen waren und sind die hauptsächlichen Kritikpunkte an den TTIP-Verhandlungen.
Reiner Hoffmann ist Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und wies bei der Abschlusskundgebung darauf hin, dass die Gewerkschaften weder generell gegen den internationalen Handel seien noch die Globalisierung per se ablehnen. "Nur sind die Früchte der Globalisierung immer ungleicher verteilt. Mit vereinten Kräften müssen wir verhindern, dass Arbeitnehmerrechte zum Spielball einer ungezügelten Globalisierung werden."
Food-Watch-Sprecher Martin Rücker hält TTIP für eine Gefährdung der Demokratie. "Die Wahlstimmen der Bürger werden durch die Verträge an Gewicht verlieren und das Abkommen sei reiner Sprengstoff". Gesinde Schwan - immerhin SPD-Spitzenpolitikerin - widerspricht indirekt ihrem Parteivorsitzenden, der TTIP noch immer verteidigt. Der öffentliche Druck müsse aufrecht erhalten werden, sagte sie auf der Abschlusskundgebung. Deshalb sei sie froh, dass so viele Menschen heute bei der TTIP -Demonstration mitgemacht und den Protest unterstützt haben. Sie erntet allerdings wütende Buhrufe, als sie - wie Gabriel - betonte, dass trotz aller Kritik an dem Abkommen die TTIP-Verhandlungen nicht abgebrochen werden sollten.
Zu der Demonstration in Berlin hatte ein bundesweites Bündnis aus mehr als 30 Verbänden, Gewerkschaften, Bürgerrechtsgruppen, Kulturorganisationen und kirchlichen Einrichtungen; darunter der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), der Paritätische Wohlfahrtsverband, der Deutsche Kulturrat, Umweltorganisationen wie BUND, WWF und Greenpeace sowie Brot für die Welt und die Globalisierungskritiker von Attac aufgerufen. Die Grünen und die Linke unterstützen den Demonstrationsaufruf. Das Bündnis rechnete mit mehreren zehntausend Teilnehmern; eine Zahl, die weit übertroffen wurde; gleichgültig, ob es nun 150.000 oder 250.000 waren: das deutliche Signal dieser Großdemo kann und darf im Bundestag nicht ungehört verhallen.
"Glauben sie mir", sagte später bei der Heimfahrt in der völlig überfüllten S-Bahn ein älterer Mann zu mir, "glauben sie mir: ich wäre jetzt lieber in meinem Garten. Bei dem schönen Wetter. Aber ich muss doch etwas für meine Enkel tun."