Weshalb wir gut daran täten, unserem Hirn zu misstrauen

Achtung, Verschwörung!

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Verschwörungstheorien oder -erzählungen vergiften das politische und soziale Klima auf dramatische Weise. Die Corona-Pandemie hat die geistige Verwirrung einiger Bevölkerungskreise dokumentiert. Impfungen würden einen Großteil der Menschheit dahinraffen, behaupteten die Hardliner. Oder: Den Menschen würden über die Injektionskanüle Chips implantiert, mit denen wir gesteuert werden könnten wie Roboter.

Zu Beginn des dritten Coronawinters lohnt sich ein Blick auf das Phänomen der Verschwörungserzählungen. Zumal auch die politischen Implikationen verheerend sind. Stichworte: Reptiloide (Reptilienwesen) würden aus dem Erdinneren heraus führende Politiker fernsteuern, QAnon habe den Code der angeblichen geheimen Weltregierung geknackt usw.

Wie lässt es sich erklären, dass breite Kreise der Bevölkerung an so irrationale Ideen und politische Konstrukte glauben? Um das Phänomen zu ergründen, müssen wir uns zuerst mit dem Gehirn befassen.

Geprägt von Emotionen

Gemeinhin hegen viele Menschen die Vorstellung, unsere Hirnzellen funktionierten unbestechlich wie ein Computer. Doch das ist ein Trugschluss. Denn das Gehirn ist kein neutrales, unabhängiges oder unbestechliches Organ oder Instrument. Es wird geprägt von unseren Erfahrungen, unseren Erlebnissen, unseren Sehnsüchten, Hoffnungen und Wünschen.

Aber auch ganz speziell von unseren Ängsten. Also zu einem beträchtlichen Teil von unseren Emotionen. Diese bestimmen über weite Strecken unser Denken, Handeln und Fühlen. Man kann es auch auf den kurzen Nenner bringen: Sie prägen hauptsächlich unser Leben.

Vor allem auch unser Bewusstsein, das ebenfalls im Gehirn verortet ist. Oder mit einem Computer verglichen: Dieser kann auch nur mit den Informationen arbeiten, mit denen er gefüttert worden ist.

Sind Produkte des Gehirns nur eine Illusion?

Unser Gehirn arbeitet also selektiv und liefert subjektive Resultate. Deshalb täten wir oft gut daran, ihm zu misstrauen und die Resultate zu hinterfragen. Denn es findet meist, was wir suchen. Das sind oft keine rationalen Entscheide, denn die Vernunft ist nur einer unter vielen Aspekten, die Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben.

Die Fehlleistungen unseres Gehirns führen nur allzu oft zu einem verschobenen Weltbild und zu radikalen politischen Fehleinschätzungen. Sie sind nicht selten das Resultat von Sinnestäuschungen, Wahrnehmungsverschiebungen und Realitätsverlust.

Deshalb sind viele Verschwörungstheoretiker stolz darauf, nach esoterischer Manier ihrem Herzen zu folgen und mit dem Bauch zu entscheiden. Dabei wären nüchterne Informationen und politische Analysen die objektiveren Kriterien.

Querdenker entziehen sich oft rationalen Prozessen, weil sie den Medien, Politikern, Behörden und Wissenschaftlern grundsätzlich misstrauen. Stichworte: Lügenpresse und Fake News. Lieber vertrauen sie den Gleichgesinnten, die ihre "Bauchanalysen" in den Sozialen Medien verbreiten und als "Wahrheit" darstellen.

Apropos Lügenpresse: Die Verschwörungstheoretiker hängen das Etikett allen seriösen Medien an. Gleichzeitig weigern sie sich standhaft, diese zu konsumieren. Auch hier: Sie urteilen über etwas, das sie nicht kennen. Analyse und Meinungsbildung mit dem Bauch.

Sind die Wissenschaftler und Politiker "gekauft"?

Sie glauben, dass die Zehntausenden von Virologen und Epidemiologen, die ernsthafte Forschung betreiben, von der Pharmaindustrie und den Politikern "gekauft" seien und bewusst Lügen verbreiten würden. In ihrem Fanatismus verirren sich radikale Verschwörungstheoretiker in einer düsteren Parallelwelt. Politiker werden zu Feinden, Wissenschaftler ebenso.

Besonders aber sehen sie alle Medien als Handlanger der geheimen Mächte, die absichtlich Fake News und Lügen verbreiten würden, um die Gesellschaft zu destabilisieren. Wahr ist für sie immer das Gegenteil von dem, was Politiker, Wissenschaftler und die Medien verbreiten.

Somit müssen sie nie den "Beweis" für ihre abstrusen Behauptungen erbringen. Dabei reduzieren sie wie Sekten die komplexe Realität auf einfache Erklärungsmuster. Außerdem glauben sie, dass die geheimen Mächte im Hintergrund das Chaos und die Krisen auf der Welt bewusst inszenierten, um ihre Macht weiter auszubauen.

Kämpfer für eine gerechte Welt?

Da es sich bei den Querdenkern oft um verunsicherte Personen handelt, die sich vom Leben benachteiligt fühlen, suchen sie Bestätigung in der breiten Szene der Verschwörungstheoretiker. Hier erhalten sie den Eindruck, zu den Insidern zu gehören, die die Wahrheit gefunden haben. Sie sehen sich als die Eingeweihten, ja die geistige Elite, die den Durchblick hat.

Die Welt wird für sie wieder verstehbar. Und sie fühlen sich als Kämpfer für eine gerechte Welt und wollen die angeblichen geheimen Mächte und manipulierten Politiker enttarnen und die Menschheit retten. Sie begeben sich auf einen Missionsfeldzug und finden einen tieferen Lebenssinn.

Demonstrationen als Happening

Eine wichtige Rolle bei der Festigung der eigenen Überzeugungen spielt das Wir-Gefühl oder der Gemeinschaftssinn. Wenn sich die Querdenker, Esoteriker, Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger, Rechtsradikalen bei Covid-Aktionen oder Demonstrationen treffen, sind dies für sie Happenings.

Sie bestätigen sich gegenseitig in ihren Vorurteilen. Die Gruppendynamik gibt ihnen Halt, Einsame finden Gleichgesinnte. Das führt zu einer Massensuggestion und Euphorie. Es gibt ihnen das Gefühl der Stärke und der Macht. Sie empfinden sich als die Avantgarde und denken: So viele Mitstreiter können sich nicht irren.

Und am Anfang stand das Gehirn mit seinen vielen Fehlleistungen.

Übernahme unter geringfügigen Änderungen mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.

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