Theodor W. Adorno floh 1933 aus Deutschland, Arnold Gehlen trat in die NSDAP ein. Gleichwohl näherten sich der linke und der rechte Soziologe nach 1949 an. Auf diese merkwürdige Beziehungsgeschichte macht das Buch "Abenteuer der Moderne. Die großen Jahre der Soziologie 1949-1969" von Thomas Wagner aufmerksam.
Am 3. Februar 1965 konnte man eine ungewöhnliche Radiosendung im Südwestfunk hören: Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen diskutierten miteinander über die Soziologie als Wissenschaft. Diese Aussage mag für die Gegenwart etwas überraschen, stehen doch solche Debatten für eine Selbstverständlichkeit. Indessen handelte es sich für damals wie für heute um eine Besonderheit, was mit den Protagonisten zusammenhing: Adorno floh 1933 aus Deutschland, Gehlen trat in die NSDAP ein. Nach 1949 gehörten sie in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland zu den führenden Philosophen und Soziologen. Gelegentlich setzten Beide die erwähnte Diskussion auch öffentlich fort, erkennbar von gegenseitigem Respekt geprägt. Gleichwohl bestanden grundlegende Differenzen fort, trat doch Adorno für eine herrschaftsfreie Gesellschaft ein, während Gehlen für autoritäre Ordnungsmodelle votierte. Ersterer prägte fortan bis in die Gegenwart die "Kritische Theorie", Gehlen gilt als "Klassiker" der heutigen Neuen Rechten.
Gleichwohl bestanden gar private Beziehungen zwischen den beiden Denkern, die sich demnach nicht nur als Akteure in einem politischen wie wissenschaftlichen Streit verstanden. Darauf macht eine aktuelle Buchveröffentlichung aufmerksam, die aber unter einem schiefen Titel erschien: "Abenteuer der Moderne. Die großen Jahre der Soziologie 1949-1969". Denn es geht darin nicht um eine Art Gesamtdarstellung zur genannten Zeit, konzentriert sich der Autor doch auf die beiden erwähnten Denker. Ob der promovierte Kultursoziologe Thomas Wagner oder Klett-Cotta als sein Verlag dafür verantwortlich ist, lässt sich angesichts von fehlenden Angaben dazu im Text nicht sagen. Dieses formale Detail besitzt aber keine inhaltliche Relevanz. Insofern sind hier auch keine weiteren Reflexionen zum Thema nötig. Es geht also eher um eine Beziehungsgeschichte, mit kleinteiliger Gliederung und leichter Hand geschrieben. Bezogen ist sie auf die beiden Philosophen und Soziologen, sowohl auf Archivfunde und Interviews wie auf Medienberichte und Publikationen gestützt.
Der Autor zeichnet die erwähnten Begegnungen und deren jeweilige Hintergründe nach, wobei auch ein anschauliches Bild damaliger wissenschaftlicher Kontroversen und Ränkespiele entsteht. Adorno engagierte sich etwa früh gegen die Berufung von Gehlen auf eine Professur, wobei er aber keine eigenen Lektüren anstellte, sondern lediglich von einem Mitarbeiter zusammengestellte Zitate nutzte. "Adorno mangelt es an Textkenntnis" lautet treffend ein Unterkapitel bei Wagner. Der Autor geht auch näher auf Gehlens NS-Vergangenheit ein, verdankte er doch seine wissenschaftliche Karriere einem einschlägigen Opportunismus. Gleichwohl erhielt Gehlen nach 1949 erneut einen Lehrstuhl. Die Annäherung des einst geflohenen Juden an das frühere NSDAP-Mitglied erfolgte dann zunächst über ästhetisch-künstlerische Schnittmengen, später spielten auch ähnliche Einwände gegen die technisierte Gesellschaft eine Rolle. Und schließlich agierten die Achtundsechziger gegen Beide, aber jeweils aus unterschiedlichen Gründen.
Dieser Entwicklung mit äußeren und inneren Gemeinsamkeiten wie Spannungen geht Wagner nach. Es gibt darüber hinaus noch in seiner Erzählung einen Nebenstrang, zeigte sich doch in der DDR ein junger marxistischer Philosoph von Gehlen angetan, denn der gemeinte Wolfgang Harich wollte ausgerechnet von einem NS-belasteten konservativen Soziologen lernen. All dies wird in "Abenteuer der Moderne" anschaulich und interessant beschrieben. Indessen hätte man sich dann aber noch etwas mehr Ausführungen darüber gewünscht, worin genau die gemeinsamen und unterschiedlichen Positionen bestanden. Der Erzählfluss wäre sicherlich durch eine solche Gegenüberstellung gestört worden, gleichwohl hätte diese den Erkenntniswert der Monographie ungemein erhöhen können. Denn offenkundig gab es inhaltliche, aber auch strukturelle Gemeinsamkeiten. Es lohnt angesichts von gegenwärtigen politischen Entwicklungen darauf kritisch zu blicken, lassen sich daraus doch bedeutsame Einsichten in heute kursierende Weltbilder gewinnen.
Thomas Wagner, Abenteuer der Moderne. Die großen Jahre der Soziologie 1949-1969, Stuttgart 2025, Klett-Cotta, 330 Seiten, 28 Euro