Interview

Eine ähnliche Entwicklung wie in den USA ist langfristig in Deutschland möglich

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Das Reichstagsgebäude - Auch in Berlin unternahmen Demonstranten im vergangenen Jahr den Versuch, das Zentrum der politischen Macht zu erstürmen.

Die Erstürmung des Kapitols in den USA durch Trump-Anhänger hat weltweit für Entsetzen gesorgt. Auch in Deutschland erstürmten Demonstranten der Querdenker-Szene im vergangenen Jahr die Treppen des Reichstagsgebäudes. Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede gibt es zwischen den beiden Ereignissen? Der Humanistische Pressedienst sprach darüber mit dem Extremismusforscher Prof. Armin Pfahl-Traughber.

hpd: Die Bilder von Trump-Anhängern, die das US-Kapitol erstürmen, gingen vergangene Woche um die Welt. Sie wecken in Deutschland unschöne Erinnerung. Denn im letzten Jahr durchbrachen Querdenker die Absperrung des Reichstagsgebäudes in Berlin und einige von ihnen drangen in das Gebäude ein und belästigten dort Politiker. Inwieweit weisen die Ereignisse in Berlin und in Washington Parallelen auf, Herr Prof. Pfahl-Traughber?

Armin Pfahl-Traughber: Es gibt im Agieren einige Gemeinsamkeiten, es gibt in den Dimensionen aber wichtige Unterschiede. Fangen wir mal mit den Gemeinsamkeiten an: Diese bestehen darin, dass aus einer Demonstration heraus durchaus gewaltgeneigte Akteure wichtige Einrichtungen der parlamentarischen Demokratie "erstürmen" wollten. Inwieweit sie aber auch ideologische und darüber hinausgehende Gemeinsamkeiten haben, lässt sich gegenwärtig noch nicht sagen. Denn es gibt weder abgesichertes sozialwissenschaftliches Wissen darüber, wie sich die "Querdenker" – das sollte immer in Anführungszeichen stehen – noch der Mob in den USA zusammensetzen beziehungsweise zusammensetzten.

Was die Zusammensetzung der "Querdenker" betrifft, gibt es aber doch die Studie zur "Politischen Soziologie der Corona-Proteste", die Mitte Dezember von dem Baseler Soziologen Oliver Nachtwey herausgegeben wurde.

Das stimmt, indessen handelt es sich nicht um eine repräsentative Studie. Dies betont auch Nachtwey im Text. Dieser Gesichtspunkt wurde meist in der Medienberichterstattung übergangen. Wir können daraus keine Verallgemeinerungen ableiten. Ähnlich verhält es sich bei den Bildern aus den USA. Ob die bekannten Fotos, die durchgängig Männer mal mit "normaler Kleidung" oder in absonderlicher Phantasiekleidung zeigen, repräsentativ für die Teilnehmer sind, lässt sich gegenwärtig nicht sagen. Es bleibt die doch sehr allgemeine Einsicht, dass es in Deutschland aktivistische Gegner der Infektionsschutzauflagen und in den USA Trump-Anhänger waren. In beiden Fällen gehörten dazu auch Anhänger der Q-Verschwörungsideologie und organisierte Rechtsextremisten aus unterschiedlichen Bereichen, aber wie hoch der Anteil jeweils konkret war, lässt sich nicht genau sagen.

Noch mal zurück zu Ihrer Formulierung "in den Dimensionen wichtige Unterschiede". Was wären denn da wichtige Gesichtspunkte?

In Berlin befanden sich lediglich vier Personen im Bundestag, übrigens auf Einladung von Abgeordneten der AfD. Diese "Demonstranten" – auch hier sind die Anführungszeichen wichtig – beleidigten Politiker der demokratischen Parteien. Diese Ereignisse, so erschreckend sie waren, stehen aber in keinem Verhältnis zu denen in den USA. Die Anzahl der dortigen sogenannten "Demonstranten" war weitaus höher. Sie erstürmten sogar die Büros bekannter Politiker. Auf einem bekannten Foto legt etwa ein Mann seine Füße auf den Schreibtisch von Nancy Pelosi, was als eine symbolische Machtübernahme gedeutet werden kann. Viele dieser sogenannten "Demonstranten" berauschten sich auch an diesem Gefühl, wofür die jubelnden Schreie ebenso wie die gemachten Selfies stehen.

Das würde ja bezogen auf die von Ihnen genannten "Dimensionen" nur für die Anzahl und die Handlungen der dortigen sogenannten "Demonstranten" stehen. Gibt es darüber hinaus noch andere Unterschiede?

Ja, die beziehen sich auf den politischen Hintergrund. In den USA hatte bekanntlich der noch amtierende Präsident Trump zu den Protesten aufgerufen. Wenngleich er nicht die Erstürmung des Kapitols ausdrücklich forderte, so konnten seine Anhänger ein solches Handeln durchaus so aus seinen Worten ableiten. Eine Distanzierung von der Gewalt kam erst, nachdem selbst in seinem politischen Umfeld die Empörung groß genug geworden war. Dass aber in einer angesehenen Demokratie ein abgewählter Präsident in dieser Weise vorgeht, das ist tatsächlich ein Novum in der Geschichte. Für die Einschätzung derartiger Handlungen fehlen einem immer noch die seriösen Worte.

In Deutschland gibt es gegenwärtig keinen Politiker im Amt, der zu solchen Maßnahmen greifen würde. Man kann indessen bei AfD-Politikern immer wieder Töne hören, die mit Andeutungen in Richtung von solchen Optionen gehen. Wenn da etwa in der Partei die letzte friedliche und evolutionäre Chance auf einen notwendigen Wandel gesehen wird, stellt sich die Frage, was denn bei deren Scheitern auf dem legalen Weg zur Macht geschehen würde. "Nicht friedlich" bedeutet ja bekanntlich "gewalttätig", "nicht evolutionär" ebenso bekanntlich "revolutionär". Wenn man es anders meint, hätte man es auch anders formulieren können.

Damit komme ich zu meiner letzten Frage, die Sie schon ein wenig angesprochen haben. Gibt es in Deutschland auch Gruppen, die eine ähnliche Gefahr für die Demokratie darstellen wie die gewaltgeneigten Trump-Anhänger in den USA?

Es gibt auch in Deutschland eine recht hohe Anzahl von gewaltbereiten Rechtsextremisten. Die Sicherheitsbehörden schätzen sie auf 13.000 mit steigender Tendenz, wobei hier weder die gewaltgeneigten "Corona-Protestler" noch etwa das Potential in anderen Kontexten wie etwa den "Reichsbürgern" oder Verschwörungsgläubigen eingerechnet ist. Gegenwärtig gibt es keinen politischen Akteur, der dieses Potential gezielt mobilisieren könnte. Darüber hinaus besteht dort auch keine ideologische Einheit. Gleichwohl sind die Grenzen zwischen den Milieus in den letzten Jahren immer mehr in Auflösung gewesen. Und ein Mob wie in den USA braucht auch keine gemeinsame Ideologie. Es genügt die Bereitschaft, in einem solchen Sinne vorzugehen. Die Akteure in diesen Kontexten blicken mit "leuchtenden Augen" auf diese Entwicklung in den USA.

Derartige Aktivitäten zerstören die Demokratie nicht, zumindest nicht allein, sie kann in der Abwehr von solchen Bestrebungen sogar gestärkt werden. Eine ähnliche Entwicklung wie dort dürfte es in Deutschland kurzfristig nicht geben, längerfristig ist sie indessen durchaus möglich. Wir können noch nicht abschätzen, wie sich die politische Entwicklung "nach Corona" neu gestaltet.

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