ATAK erzählt die Geschichte der letzten Wandertaube

Allein unter Menschen

BERLIN. (hpd) Die Geschichte der Bisons, die zu Millionen über die Prärie Nordamerikas zogen und in Massen gejagt wurden, bis sie nahezu ausstarben, kennt jeder, aber die der Wandertauben? Auch sie schwärmten zu Millionen über den amerikanischen Kontinent. Es gibt sie nicht mehr. ATAK widmet ihnen sein Bilderbuch "Martha".

Diese Geschichte hat kein Happy-End. Die letzte Wandertaube starb am 1. September 1914 im Zoo von Cincinnati. Erst als es nur noch ein Exemplar ihrer Art gab, erhielt sie auch einen Namen: Martha – wie die Gattin des Präsidenten Woodrow Wilson. 

Einst bildeten die gigantische Schwärme Schleifen und Schlaufen am Himmel gleich fliegenden arabischen Schriftzeichen oder chinesischen Wolken, so sieht es ATAK. Schließlich färbte ihr Blut die Erde, wenn sie abgeschossen, in Züge verladen und zum Verscherbeln für einen Cent pro Tier auf den Marktständen landeten. 

Gefährdete auch ihre Gefräßigkeit einst so manche Ernte, so gelangten sie doch zu Abertausenden auf die Tische hungriger Siedler. Fressen und gefressen werden. Nein, nicht als ewiger Kreislauf. Einst war die Welt eine Welt aus Tauben – war man eine Taube und lebte in deren großen Sozialverbänden – am Ende lebte Martha in einer "Welt aus Menschen", die sie von der anderen Seite der Gitterstäbe aus anstarrten.

Der schon in der DDR als Punk-Comic-Zeichner bekannt gewordene ATAK alias Hans-Georg Barber erzählt diese Geschichte in üppigen Panoramabildern und in solchen, in denen er Bilder in Bilder hineinschmuggelt. Caspar David Friedrichs Wanderer betrachtet diesmal nicht vernebelte sanfte deutsche Mittelgebirgsrücken, sondern die Gipfel der Rocky Mountains, deren Bergkette verdächtig an das Paramount-Film-Emblem erinnert. In die Pinnwand des amerikanischen Vogelmalers John James Audubon, der ein liebestrunkenes schnäbelndes Wandertaubenpärchen malt, hat sich eine kleine Micky-Maus-Zeichnung eingeschlichen. 

Dem Wandertauben zählenden Audubon hat sich an anderer Stelle ein Elfenbeinspecht zugesellt, den man lange in Amerika ausgestorben glaubte, der aber 2004 wieder gesichtet und gehört wurde.

Auf der letzten Buchseite erhebt sich Pieter Breughels unersättliche Fleischpflanze aus einer Seeoberfläche, in der noch ein einst vor allem vor Island gefischter Narwal schwimmt. An seinem Ufer kann der Betrachter den erst zu Beginn der Kolonialzeit ausgestorbenen Riesenvogel Dodo oder die Leserin einen tasmanischen Beutelwolf ausmachen, dessen letztes Exemplar ja auch 1936 im Zoo starb.

Dass der Zöllner Henry Rousseau und vor allem die amerikanischen Naiven Edmond Hicks und Grandma Moses deutlich bis hin zur Pop-Persiflage zitiert werden, das versteht sich fast von selbst.

Ein bisschen makaber mutet die Audubon-Atelier-Szene schon an, in der für die möglichst detailgenaue Darstellung des liebenden Vogelpaares als Vorlage ein ausgestopftes Vogelpärchen mit Nägeln auf ein Tableau fixiert wurde. Doch wird die Szenerie gleich wieder umspielt von Blümchen im Stil der Bauernmöbelmalerei oder naiver Bildkunst aus dem Balkan. 

Der Schrecken kommt bei ATAK eben auf Zehenspitzen in Pantoffeln einer Prinzessin aus Andersens Märchen daher. Also durchaus geeignet für Kinder ab sechs. Menschen aller Altersstufen werden auf diesen Bildern lange immer wieder Neues entdecken.

ATAK: "Martha", Aladin-Verlag Hamburg 2016, 36 S., 19,95 €