Was ist die "Aufklärung" des Islams?

1. Die gescheiterte Vorreform

Im offiziellen Diskurs der Wortführer der muslimischen Gemeinde in Deutschland hat sich inzwischen die Ansicht etabliert, der Islam sei nicht reformierbar. Der Islam sei keine christliche Religion, deshalb sei die Reformation der islamischen Lehre ein wesensfremder Gedanke. Bereits am 9. September 2005 schrieb die türkische Zeitung Milli Gazete auf der vierten Seite Folgendes:

Der islamische Glaube braucht keine Reformen, Veränderungen und Erneuerungen. … Die Thesen einiger Radikaler, Konvertiten und Reformer sind komplett falsch. Im Islam gibt es keine Reformen. … Reformen und Veränderungen können nur in verdorbenen Religionen, in menschlichen Ideologien und Lehren durchgeführt werden.6

Die zitierte Zeitung steht der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) sehr nah, die seit Jahren unter intensiver Beobachtung des Verfassungsschutzes steht.7
Wenn solche Ansichten verbreitet werden, ist es kein Wunder, dass viele Muslimen im Westen die humanistischen Begründungsversuche einer Islamaufklärung vehement ablehnen. Interessant scheint in diesem Kontext die Verwendung des Terminus "verdorbene Religionen". Anscheinend handelt es sich um eine Anspielung auf das Judentum und das Christentum.
Wenn die Muslime das tägliche Gebet praktizieren, rezitieren sie jeden Tag siebzehn Mal die erste Sure des Korans, "die Eröffnende". In dieser Sure, die offenbar aus der medinensischen Epoche stammt, wird gebeten: "Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht den Weg derer, die Deinem Zorn verfallen sind und irregehen!" (Vers 6-7). Die gesamte muslimische Koranexegese ist der Auffassung, dass die erste Gruppe die Juden sind und die zweite die Christen.

Die muslimischen Theologen berufen sich zur Untermauerung ihrer Ideen auf verschiedene Koranverse, in denen ihrer Meinung nach die Muslime zur Verbreitung der Reform (iṣlāḥ) innerhalb ihrer Gemeinde aufgerufen würden. Zwei dieser Koranstellen, in denen Gott die Menschen davor warnt, Unheil auf der Erde anzurichten, nachdem er diese durch die ausgesandten Propheten in Ordnung gebracht hatte, sind die Verse 56 und 85 der Sure 7. Nach verbreiteter islamischer Vorstellung werden auch die Propheten als Reformer betrachtet, die im Auftrag Gottes die Menschen zu der von Gott geschaffenen natürlichen Art (fiṭra) (Sure 30, Vers 30) zurückzuführen versuchten. Eine weitere Koranstelle, auf die sich alle modernen Reformer berufen, ist Sure 11, Vers 88:

Ich will nichts als für Ordnung sorgen, soweit ich es (eben) vermag.“

Auch in der Tradition des Propheten wird ilṣāḥ große Bedeutung beigemessen, und zwar im Sinne von Erneuerung. So soll der Prophet z. B. gesagt haben:

Alle hundert Jahre sendet Gott dieser Gemeinde einen (Gelehrten), der ihre Religion erneuert (man yuğaddid lahā dīnahā.).8

Die Lehren des Korans und der Sunna seien wieder in den Mittelpunkt zu rücken, nachdem sie im Laufe der Zeit mehr und mehr vernachlässigt wurden. Es liege in der Hand der Gelehrten, sich darum zu bemühen und den Islam von unerlaubten Neuerungen zu reinigen.

Die Vorreformbewegung zur Wiederbelebung des Islams (as-salafīya), welche sich im 18. und 19. Jahrhundert fast überall in der islamischen Welt zu Wort meldete, war gewiss nicht von Erfolg gekrönt. Reformer, die eine Rückkehr zu den Lehren des "reinen" Islam des siebten Jahrhunderts predigten, wie etwa Jamāl ad-Dīn al-Afġānī (1838-1897), Muḥammad ʻAbduh (1849-1905) und Muḥammad Rašīd Riḍā (1865-1935)9, waren nicht in der Lage, die kulturellen Identitätstraumata, die durch den Zusammenprall mit der westlichen Moderne verursacht worden waren, zu heilen.
Dieser angeblichen Renaissance (nahḍa) fehlt trotz ihrer Bemühungen gegen die Erstarrung und Stagnation der islamischen Kultur der kritische Geist. Nicht zuletzt scheuten sich die Gelehrten vor einer konstruktiven Auseinandersetzung mit der Geschichte des Islams, da sie eine Sehnsucht nach der Rückkehr in die grenzenlos idealisierte Vergangenheit hegten. Das sogenannte "Erwachen des Islams" (ṣaḥwat al-islām) und die vehemente Ablehnung der westlichen Kultur durch die Erben dieser Reformbewegung, wie etwa dem Begründer der Muslimbruderschaft Ḥassan al-Banna (1906-1949) und den Theoretiker des aktivistischen Islams Sayyid Quṭb (1906-1966), mündete in neofundamentalistische Bewegungen und das globale Terrordesaster.
Gewiss betrachten die konservativen Muslime auch heute das historisch akkumulierte Wissen der Tradition als einen unverzichtbaren Teil ihrer eigenen Kultur. Die Angst vor der westlichen Moderne, die sich insbesondere die Salafisten zunutze machen, zeigt jedoch gerade, dass die Grundlage nicht nur des salafistischen, sondern allgemein des sunnitischen Islams der Kritik nicht standhalten kann. Nicht zuletzt ist der Islam heute in seiner salafistischen Ausprägung einer der Faktoren für die systematische Verbreitung von Gewalt in der Welt. Und somit wird der Islam von seinen eigenen Anhängern als Geisel genommen.

Hierbei kann auch mit Nachdruck betont werden, dass die Islamisierung der Moderne in einem europäischen Kontext als eine entgegenwirkende Strömung, welche vehement die westliche Zivilisation unter dem Vorwand des Identitätsverlusts ablehnt, zum Scheitern verurteilt ist. Auch bequeme Verschwörungstheorien als eine unbewusste Abwehr gegen die westliche Moderne, welche die Anderen für die Identitätskrise des Islams verantwortlich machen, scheinen heute nicht mehr vertretbar. Ein Blick auf die politische Landkarte der islamischen Welt lässt erahnen, dass der Entwicklungsprozess vieler muslimischer Länder auch nach der Kolonialzeit immer noch unter Stagnation auf allen Ebenen leidet.

Die Notwendigkeit einer konstruktiven Auseinandersetzung mit der eigenen islamischen Kulturtradition, dem "Erbe" (at-turāṯ)10, durch eine historisch-kritische Verstehensmethode bleibt unausweichlich. Diese Aufgabe stellt sich heutzutage schärfer und heftiger denn je, weil es um die Etablierung eines sogenannten europäischen Islams in einem westlichen Kontext geht. Gewiss bleibt ein europäischer Islam den Grundsätzen der westlichen Moderne fremd, solange er nicht in der Lage ist, erstens die eigene historische Genese seit seiner Entstehung im siebten Jahrhundert kritisch aufzuklären und zweitens einen konstruktiven Dialog mit den Andersdenkenden innerhalb der muslimischen Gemeinde wie auch mit nichtmuslimischen Mitmenschen aufzunehmen. Nur solch einem pluralistischen Islam kann es gelingen, seine gleichberechtigte Anerkennung durch die anderen Religionsgemeinschaften zu erreichen.

Der klassischen Vorreformbewegung und ihren islamistischen Erben ist es nie gelungen, den systematischen Gehalt der Religion gemäß der jeweiligen Situation zu rekonstituieren. Sie war auch nicht im Stande, den Islam für seine eigenen Fragen fruchtbar zu machen. Die Ahnherren der angeblichen Renaissance kündigten der Vernunft den Krieg an, und verursachten einen geistigen Stillstand durch ihre unbedingte Fokussierung auf die Rückkehr zum "wahren Islam" zwischen 610 und 661. Ihre Bewegung war eine rein religiöse Vorreformbewegung, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Religion in ihrer "ursprünglichen Form" wiederzubeleben, nämlich durch die Rückkehr zum Koran und zur Tradition des Propheten.
Mit anderen Worten: Reform in diesem Sinne ist die Entfernung unerlaubter Neuerungen sowie der Irrtümer der Unwissenden. Die religiöse Renaissance war für sie die Läuterung des Islams, seine Rückführung auf den Koran und die Tradition des Propheten sowie die Rückbesinnung auf das Handeln der rechtschaffenen Vorfahren. In der gesamten Literatur der modernen Reformbewegung ist die Rede von Rückkehr (ruğūʻ) zum Koran und zur Tradition des Propheten allgegenwärtig. Deswegen werden die Anhänger dieser Schule manchmal der Rückständigkeit (passéisme) beschuldigt, weil dadurch die Gegenwart vernachlässigt werde.11 Selbstverständlich lässt sich solch ein Ansatz der Rückkehr auch durch den Koran selbst untermauern (Sure 5, Vers 3; Sure 6, Vers 38). Erstens dadurch, dass die Religion des Islams im Koran als vollständig gilt. In ihr werde nichts übergangen. Dieser Verstehensansatz ignoriert jedoch die Lebenswelt der Menschen in ihrer jeweiligen Situation. Der Diskurs der Vorreformbewegung wird gerade dadurch charakterisiert, dass er dem historischen Entwicklungsprozess im Laufe der Jahrhunderte überhaupt kein Interesse schenkte. Ihre apologetische Überzeugung führt die Reformer zu der Meinung, dass die islamische Lehre nur schlecht umgesetzt sei und die Muslime die Verantwortung dafür trügen.12 Diese Hoffnungsträger der islamischen Renaissance (nahḍa) waren einfach nicht im Stande, den Islam oder zumindest einen Teil seiner Lehren in Frage zu stellen. Somit reduzierten sie den Islam auf die historische Praxis der Muslime und vergaßen dabei, dass die Religion auch eines sinnstiftenden Gehalts für das Handeln der Menschen bedarf. Der Islam als Religion ist nicht von den Taten der Menschen zu trennen, weil sie sich an seinen Grundsätzen orientieren.

Gewiss erkannten die muslimischen Kleriker die Notwendigkeit der Einführung neuer Impulse in die Lehre des Islams. Für sie war allerdings der Offenbarungsglaube zentraler als der Vernunftglaube, deshalb waren sie nicht in der Lage, anhand der historisch-kritischen Methode die eigene religiöse Identität in ihrem historischen Entwicklungsprozess seit dem siebten Jahrhundert zu prüfen. Es ging ihnen als religiöse Autorität in erster Linie um die Wiederherstellung des Offenbarungsglaubens und seiner Festigung. Solch eine Vorreform ist als Schritt nach hinten zu betrachten und keine Realisierung einer idealen Zukunft13, ganz zu schweigen von einer friedfertig diskursiven Begegnung mit dem Anderen. Eine historisch-kritische Erforschung der Theologie des Islams und seiner Geschichte als Grundlage einer Renaissance wurde nie unternommen. Deshalb blieben das freie Denken und die reflektierende Kritik verboten, was den Graben zur Moderne und zum Humanismus vertiefte.

2. Die Aufklärung des Islams

"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."14

Ich wage die Behauptung, dass jede Religion auch Unmündigkeit bedeutet, wenn die Vertreter einer Religion im Namen der männlichen Dominanz den Gebrauch der eigenen Vernunft verbieten. In der Aufklärung des Islams geht es darum, die historisch akkumulierte Wissenstradition von menschengemachten, oft patriarchalischen Ballast zu befreien. Die Aufklärung als Reformationsprogramm ist kein Übergang von einem Zustand in einen anderen. Sie ist ein "Ausgang" im Sinne einer geistlichen Bewegung, durch die die Muslime zum Gebrauch der Vernunft in ihrer Religion ermutigt werden. Das muslimische Individuum emanzipiert sich, es wird zum Akteur der Selbstbestimmung seiner religiösen Identität. Durch den Akt der freien Wahlentscheidung wird der Zeit der unüberlegten Nachahmung, die noch seine Gegenwart bestimmt, ein Ende gesetzt.

Die Aufklärung des Islams als Wahl zwischen Renaissance und Dekadenz ist ein einzigartiger kultureller Prozess, der sich seiner selbst bzw. seiner Identität bewusst geworden ist. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass der Muslim bemüht ist, seine religiöse Vergangenheit und seine Gegenwart auf Grundlage der rationalen Reflektion zu verstehen. Und dazu benötigt er Mut, um sich selbst in seiner Gegenwart von seiner Vergangenheit und seiner vererbten Identität zu lösen.
Die islamische Aufklärung als reflektierende Bewegung im Sinne vom "Ausgang" ist auch ein Heraustreten aus der Ohnmacht der unaufgeklärten Geschichte des Islams und ihrer Wirkungsmacht auf die Gegenwart der Muslime. Die Ohnmacht der kollektiven Identität der Muslime zeigt deutlich, dass sie bisher nicht gegen ihre Unmündigkeit, die sie selbst verschuldet haben, vorzugehen gewagt haben. Bis heute wird die Kritik des Koran in seiner politischen Form in der medinensischen Periode (622-632) nicht zugelassen. Auch die Kritik des historischen Propheten wird vehement abgelehnt, obwohl er nur Mensch (Koran 18:110) mit menschlichen Fehlern und Schwächen war. Der fortbestehende Zustand der Unmündigkeit zeigt sich in der blinden Übernahme von herkömmlichen Denksystemen der Islamgelehrten aus vergangenen Epochen.

Bei der islamischen Aufklärung ist zwischen dem Zustand des Gebrauchs der Vernunft und dem Zustand der Fremdbestimmung durch die Islamgelehrten in Sachen der Religion zu unterscheiden. Die Aufklärung des Islams in dem heutigen Kontext kann im Rahmen "des Verhältnisses zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen" verstanden werden.15 Die Regierung der anderen vollzieht sich darin, dass Muslime ohne den Gebrauch des eigenen Verstandes gemäß der Interpretationen früherer Islamgelehrten leben. Und die Regierung des Selbst bedeutet in erster Linie, dass die Religion eine private Angelegenheit ist. Dadurch trennt sich die Vernunft von dem Gehorsam gegenüber religiösen Instanzen. Und die Mündigkeit des Selbst beinhaltet auch die Autonomie des Textes und die Freiheit der Interpreten in ihrer Vielfalt. Und besonders durch die Vielfalt der zeitgenössischen Lesarten jenseits politischer Interessen können die Menschen selbst neu verstehen und entdecken.

Wahrlich wehren sich seit Jahrhunderten viele Muslime gegen jeden Versuch zur Aufklärung des Islams. Aus unbegründeter Angst lehnt man die Reformierbarkeit des Islams vehement ab. Die Autonomie des Selbst in der eigenen Religion scheint etwas Fremdes zu sein, das tatsächlich in einen Zustand der Unmündigkeit führt, in dem sie sich selbst verschuldet befinden. Durch den Verzicht auf individuelles Räsonieren bleibt nur der Gehorsam gegenüber veralteten Denksystemen und der Autorität der Gelehrten. Die Furcht vor dem Neuen in der eigenen Religion scheint unermesslich zu sein. Historische Fesseln prägen die kollektive Identität. Jeglicher Kritik des Islams wurden im Laufe der Geschichte die Wege versperrt, sei es durch die politisch Herrschenden, die konservativen Gelehrten oder die Laien. Diese drei Mächte bestimmen bis heute den Ablauf der Geschichte des Islams.16 Und jeder, der gegen den Strom schwimmt, wird bedroht oder bezahlt sogar mit dem Leben. Die Geschichte des Islams ist eine Geschichte der Unmündigkeit, denn die Menschen waren bis heute darauf bedacht, sowohl im Privaten als auch im Öffentlichen zu gehorchen.