Im Gespräch mit dem Religionssoziologen Detlef Pollack

Bedrohliche Atheisten und katholische Aliens

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Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack
Detlef Pollack

MÜNSTER. (hpd) Religionssoziologe Detlef Pollack, Sprecher des Exzellenzclusters "Religion und Politik" der Universität Münster, sprach mit hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg über das Image von Atheisten und darüber, wie sie es verbessern können.

Detlef Pollack ist Professor für Religionssoziologie und Sprecher des Exzellenzclusters "Religion und Politik" an der Universität Münster. Der studierte evangelische Theologe versteht sich hinsichtlich seiner soziologischen Forschungen als methodologischer Agnostiker.

hpd: Herr Pollack, bei der Vorstellung Ihrer jüngsten Umfrage zum Thema "Fundamentalismus, Gewaltakzeptanz, Religiosität" war unter anderem zu erfahren, dass 49 Prozent der Menschen in Westdeutschland den Islam als Bedrohung wahrnehmen. Was angesichts der aktuellen medialen Debatten wenig verwunderlich ist. Ziemlich überraschend fand ich allerdings, dass der Atheismus in Westdeutschland auf Platz Zwei des Bedrohungs-Rankings steht. 36 Prozent der Menschen in Westdeutschland nehmen den Atheismus als Bedrohung wahr, in Ostdeutschland sind es 16 Prozent. Woher stammen diese Zahlen?

Prof. Detlef Pollack: Aus dem Religionsmonitor 2012 der Bertelsmann Stiftung. Darin wurde –nach Ost und West differenziert – gefragt, inwieweit verschiedene Religionsgemeinschaften und eben auch Atheisten als Bedrohung oder Bereicherung empfunden werden. 49 Prozent Ostdeutschen empfinden den Atheismus übrigens auch als Bereicherung – allerdings nur 34 Prozent der Westdeutschen. Das Christentum hat da ein deutlich besseres Image. Das bewerten 76 Prozent in Westdeutschland und 64 Prozent in Ostdeutschland als Bereicherung.

Das finde ich sehr interessant, weil es darauf hinweist, dass es selbst im Osten Deutschlands, wo die Konfessionslosen ja 75 Prozent stellen, eine latente kulturelle Prägung durch das Christentum gibt.

Könnten die schwächelnden Werte für Atheisten in Ostdeutschland vielleicht damit zusammenhängen, dass man Atheismus dort gar nicht als eine besondere Überzeugung wahrnimmt, sondern als das, was normal ist? Es gibt doch diese vielzitierte Studie, bei der ostdeutsche Jugendliche nach ihrer Weltanschauung gefragt wurden, ob sie Christen seien oder Atheisten. Die berühmte Antwort: "Weder noch, ich bin normal."

Ja, ich weiß, das wird immer wieder als Studienergebnis zitiert. Aber ich bin gar nicht sicher, ob dem Ganzen tatsächlich eine Befragung zugrunde liegt.

Ich habe mal versucht, diese Sache genealogisch nachzuverfolgen. Und das erste Mal taucht diese Antwort gar nicht im Zusammenhang mit einer Studie auf, sondern als persönliche Reminiszenz des Religionssoziologen Joachim Matthes. Der hat das schon direkt nach der Wende berichtet. Seitdem wird das kolportiert. Aber ich bin skeptisch, wie viel Wirklichkeitsgehalt das hat.

Allerdings: Die Geschichte, erfunden oder nicht, bringt eine Sache auf den Punkt, die ich ebenfalls wahrnehme: Viele Ostdeutsche haben gegenüber allem Religiösen das Gefühl von etwas Exotischem, von etwas, das fremd ist und unheimlich.

Das stimmt. Ich war vor ein paar Wochen auf dem Katholikentag in Leipzig und habe da sehr interessiert den Gesprächen auf der Straße und in öffentlichen Verkehrsmitteln gelauscht. Ich hatte das Gefühl, die Leipziger empfinden die Katholikentagsbesucher irgendwie als Aliens.

Ich war auch auf dem Katholikentag, und es ist mir genauso gegangen. Ich habe dort im Hotel an der Bar einen Kaffee getrunken und dann kamen ein paar Kleriker herein. Die Frau, die mich bediente, eine Ostdeutsche, die guckte mich an nach dem Motto "Wo kommen die denn her?". Sie wollte gleich mit mir Übereinstimmung herstellen darüber, wie fremd das ist. Es war deutlich zu spüren: Eine große Distanz. Ich habe diese Geschichte dann auch auf dem Katholikentag erzählt, beim großen Podium. Die Katholiken haben darauf allerdings sehr reserviert reagiert.

Verlassen wir die katholischen Aliens und kommen zurück zu den Atheisten. Was gibt es denn außer dem Befund, dass ein Drittel der Westdeutschen Atheisten für eine Bedrohung hält, sonst noch an Erkenntnissen darüber, wie Atheisten wahrgenommen werden?

Also über die Wahrnehmung von Atheisten gibt es nicht so sehr viel. Man weiß, dass es typische Reaktionsmuster auf Atheismus gibt, zum Beispiel "Man braucht doch einen letzten Halt, etwas, worauf man sich verlassen kann". Ich glaube viele, vor allem im Westen Deutschlands, vertreten die Auffassung, dass man eigentlich ein vollwertiges Leben ohne Religion gar nicht führen kann. Das geht dann mit einer weiteren typischen Reaktion einher: "Ja, dann glauben die halt was anderes". Umgekehrt ist es ganz typisch, dass viele Konfessionslose auf sowas auch 'n bisschen aggressiv reagieren, weil damit natürlich unterstellt wird, dass man ohne Glauben gar nicht vollgültig Mensch ist.

Als wie gewöhnlich oder ungewöhnlich wird es denn heute in Deutschland empfunden, wenn jemand Atheist oder konfessionslos ist?

Die Tatsache, dass man konfessionslos ist, wurde im Westen Deutschlands bis ungefähr 1990 tatsächlich weitgehend als Ausnahme behandelt. Wir haben Untersuchungen, warum man aus der Kirche austritt und wie man das begründet, und das war, ich sag mal, immer ein Eiertanz. Man wollte es nicht so richtig zugeben, gegenüber der Familie, gegenüber den Großeltern auf gar keinen Fall. Man hat sich geschämt dafür, aus der Kirche auszutreten. Das ist vorbei. Konfessionslosigkeit ist heute eine legitime Option neben vielen anderen.

Das hat auch den Effekt, dass die Bindungskraft der Kirchen seit 1990 dramatisch nachgelassen hat. Vorher galt es als ungewöhnlich, nicht der Kirche anzugehören. Das hat sich geändert mit der Wiedervereinigung, weil es dann auf einmal so viele Konfessionslose in Deutschland gab. Die Wiedervereinigung hat tatsächlich die ganze Konfessionsbalance gekippt. Und die Erosionsprozesse bei der kirchlichen Bindung, die man ja seit den 60er Jahren beobachten kann, die haben sich nach 1990 noch einmal verstärkt.

Das führen Sie tatsächlich darauf zurück, dass mit der Wiedervereinigung so viele Konfessionslose zur gesamtdeutschen Bevölkerung hinzu kamen?

Ganz genau. Bei solchen sogenannten impliziten Zugehörigkeiten, Identitäten oder Haltungen spielen Mehrheitsverhältnisse eine ganz große Rolle. Man kann explizit für bestimmte Haltungen eintreten, für mehr Gleichheit oder was auch immer, aber bei der Religion hat das oft so einen unausdrücklichen, nicht expliziten Charakter. Niemand geht auf die Straße und sagt "Ich bin Kirchenmitglied!". Und bei solchen impliziten Zugehörigkeiten wie der religiösen Bindung sind die Verhältnisse sehr stark von Mehrheiten abhängig. Das ist ein internationaler Befund.

Wenn die Mehrheiten sich verändern – und sie haben sich seit 1990 deutlich verändert, auf einmal sind es eben nicht 12 Prozent Konfessionslose, sondern 30 Prozent – dann verändert sich die Stimmungslage.

Nach der Jahrtausendwende kam dann ja auch noch der sogenannte Neue Atheismus dazu. Hat der dem Ganzen einen weiteren Kick gegeben oder spielte der eigentlich keine Rolle bei dieser gesellschaftlichen Umstrukturierung?

Ich würde das nicht überschätzen, muss ich sagen. In Deutschland gibt es zwar auch einen gewissen engagierten Atheismus, aber das ist ein marginales Phänomen, und es wird auch nicht so breit in der Öffentlichkeit behandelt.

Eine Sache ist mir allerdings aufgefallen: Wenn es um Streitthemen geht, wie zum Beispiel die Beschneidungsdebatte, da polarisiert es sich sehr stark zwischen Religiösen oder Konfessionsangehörigen auf der einen Seite und Konfessionslosen oder Säkularen oder Religiös-Distanzierten auf der anderen Seite. An solchen Stellen treten die Meinungen auseinander. Und man kann, indem man bestimmte Positionen vertritt, auch noch anderes mitmeinen.

Von Navid Kermani gibt es den Ausdruck "Vulgäratheismus"; den finde ich nicht schlecht. Man kann Kritik an der Beschneidung – die berechtigt sein kann, wenn es um Körperverletzung oder die Unverletzlichkeit der Person geht – verbinden mit islamophoben Einstellungen, muss aber seine Islamophobie nicht zugeben. Man sagt einfach: "Ich trete für die Rechte des Kindes ein und frage, ob man das Gut der Unverletzlichkeit des Körpers nicht höher bewerten muss als die Tradition der Religionsgemeinschaften". Oft ist man dabei auch ein bisschen polemisch und nicht ganz fair gegenüber den Religionsgemeinschaften.

Die Gegenseite ist aber auch nicht gerade zimperlich, was Polemik und Unfairness angeht. Da wird nicht Kritik an der religionskritischen Haltung des Gegenübers geübt, sondern es werden ihm per se Antisemitismus und Islamophobie unterstellt. Und so versucht man dann, die Diskussion über das Thema Beschneidung mit Totschlagargumenten zu unterbinden.

Ganz genau. Das Typische ist eben, dass die verschiedensten Positionen und Interessen zusammengenommen und in einen Topf geworfen werden, damit man sich besser davon abgrenzen kann. Und umgedreht, man kann auch besser anklagen, wenn man verschiedenes zusammenbringt. Da geht es nicht um ein neutrales, rein sachliches Abwägen verschiedener Güter, sondern man möchte dann schon noch 'n bisschen mehr. Und da sieht man dann, dass das ganze Feld doch konfliktreicher ist, als es oft scheint. An solchen Themen wie der Beschneidungsdebatte oder bioethischen Fragen, da entzündet sich dann auf einmal der Unterschied zwischen Konfessionslosen und Konfessionsangehörigen.

Übrigens ist es für die engagierten Konfessionsangehörigen gar nicht so schlecht, wenn es einen engagierten Atheismus gibt. Da kann man sich abgrenzen, Kontroversen führen und sich im eigenen Glauben bestärkt fühlen. Das haben wir beispielsweise in Polen. Dort gibt es 95 Prozent Katholiken und gleichzeitig eine kleine, relativ militante antiklerikale Strömung. Das wird dort in der Öffentlichkeit breit diskutiert, und diese öffentliche Diskussion trägt zur Bindung an den Katholizismus mit bei. Umgekehrt gibt sich der Atheismus in Polen natürlich viel kämpferischer als in Deutschland, weil die Kirche dort eine viel machtvollere Institution ist. Die Kirchen treten ja hier in Deutschland relativ gemäßigt auf. Dialogisch und tolerant, wollen sich mit allen verständigen. Klar haben sie auch eine Missionsstrategie, aber das wird eigentlich nicht so gern gesagt, so dass die Kirchen oft gar nicht so viele Angriffsflächen bieten.

Sie meinen also, dass sich dort, wo die Kirche stark ist und extreme Einstellungen vertritt, auch eine extreme Gegenbewegung, ein extremer Atheismus herausbildet?

Ganz eindeutig. Das kann man auch historisch zeigen. Im 19. Jahrhundert haben wir beispielsweise starke antiklerikale Bewegungen in Frankreich. Die französische Gesellschaft ist geprägt durch das Ancien Régime, die Verbindung von politischer Herrschaft und religiöser Autorität, und das bringt Gegenkräfte hervor. Das Gleiche auch in Italien und Spanien.

Überall dort, wo die Kirche mit der politischen Macht verbunden ist, wo sie privilegiert ist, dort sind die Aversionen gegen die Kirche am stärksten. Das sieht man zum Beispiel jetzt gerade im Iran. Da haben wir aktuell eine starke säkularisierende Tendenz. In Reaktion auf die politisch ausgeübte Herrschaft der Mullahs.

Aber etwas Ähnliches gilt doch durchaus auch für Deutschland. Auch hier sind Kirche und Politik sehr eng miteinander verknüpft. Was man unter anderem an bestimmten Entscheidungen sieht. Wie jüngst bei der Sterbehilfedebatte. In der Bevölkerung gibt es ein ganz klares Votum für eine Liberalisierung der Sterbehilfe und trotzdem führt der – übrigens klar nachweisbare – Einfluss von Kirchenvertretern und kirchlichen Lobbyisten dazu, dass die Politiker sich für eine Verschärfung der Sterbehilfe aussprechen.

Ja, es sind die Kirchen, die da Lobbyarbeit machen – übrigens auch die Mediziner – obwohl die Bevölkerungsmehrheit für eine Liberalisierung eintritt. Da würde ich Ihnen vollkommen Recht geben. Und die schärfste Kritik gegenüber Religion und Kirche richtet sich ja auch hier in Deutschland auf die Verbindung von Politik und Religion.

Staatlicher Kirchensteuereinzug, Religionsunterricht an Schulen, Privilegierung der Kirchen in Bezug auf sozialdiakonische Einrichtungen, theologische Fakultäten, da macht sich die Kritik fest. Und das hängt eben damit zusammen, dass man das Gefühl hat, die Kirche ist eine Institution, die bevorzugt wird, die mit der politischen Macht klüngelt.

Wenn man die Menschen fragt, ob Religion und Politik getrennt sein sollten, dann sagen über 70-80 Prozent, ja, die sollen getrennt sein. Nicht in allen Bereichen allerdings. Bei der Erziehung hält man das nicht unbedingt für nötig. Viele, gerade im Westen Deutschlands, sind dafür, dass man die Kinder religiös erzieht, nach dem Motto "Können ruhig was mitkriegen vom Christentum, das sind doch gute Werte, Nächstenliebe und so". Dagegen hat man nichts. Aber bei Politik und Religion, da hört der Spaß auf.

Und trotzdem organisieren sich die Menschen kaum in säkularen Verbänden, die sich für diese klare Trennung von Politik und Religion einsetzen. Warum nicht?

Ich denke, da gibt es mehrere Faktoren. Ein Punkt ist sicher, dass der starke Gegner fehlt. Ein anderer Punkt ist, dass es sehr schwer ist, Menschen für ein negatives Ziel zu mobilisieren. Man kann eintreten für Gerechtigkeit, man kann eintreten für Umwelt, da kriegt man Mehrheiten. Aber wenn man sagt "Wir als Konfessionslose, die wir nicht glauben, wollen uns jetzt mal organisieren" – das ist schwer. Das ist ein institutionelles Dilemma, weil man für ein negatives Ziel die Menschen nicht so ohne weiteres motivieren kann. Das gibt's ja an mehreren Stellen. Auch die Arbeitslosen organisieren sich ja nicht.

Was müssten Ihrer Ansicht nach Atheisten tun, um ein besseres Image zu bekommen?

Das is' 'ne gute Frage. Ich glaube, sie sollten darauf verzichten zu eifern. Das ist ein wichtiger Punkt. Sobald man als Fanatiker hervortritt, wirkt das sektiererisch, das wollen die Menschen nicht, da geht man auf emotionale Distanz. Wichtig ist auch, dass man eine gewisse Toleranz übt, und sagt: "Nein, ich bin anderer Meinung, aber ich kann das verstehen, wie Sie denken".

Ich hab' das einmal erlebt bei einer Radiodiskussion. Da war eine säkulare Beerdigungsrednerin dabei, und die war ganz offen gegenüber dem christlichen Glauben. Ich fand das ziemlich sympathisch und einladend und hab' mir gedacht, das ist echt  'ne Konkurrenz für die Kirchen. Aber wenn man zu konfrontativ ist und polemisch argumentiert, verschreckt das die Menschen.

Allerdings verschrecken Atheisten Menschen ja häufig schon durch ihr bloßes Dasein. Ich selbst habe es mehrfach erlebt, dass sich Gläubige allein dadurch angegriffen fühlten, dass ein Atheist sein Nicht-Glauben begründete – obwohl die Argumente vollkommen ruhig und sachlich vorgetragen wurden.

Ja, das stimmt. Es wundert mich immer wieder, wie wenig argumentativ gerüstet die Christen sind, wenn es dann wirklich mal dazu kommt, dass sie mit einem überzeugten Atheisten zu diskutieren haben. Bis hin zu den Pfarrern und den Bischöfen. Aber das kann man den Christen nicht ersparen, würde ich sagen.

Das Interview führte Daniela Wakonigg für den hpd.