Dies ist eine Replik auf Klaus Ungerers Kolumnen-Text "Schwarze Quadrate", der am 5. Juni beim hpd erschien. Unter Berücksichtigung der dem Kommentar zugrundeliegenden berechtigten Ideologiekritik soll im Folgenden eine alternative Perspektive auf den Hashtag "BlackOutTuesday" im Speziellen und auf die Dynamik politischen Aktivismus im Zeitalter sozialer Medien im Allgemeinen erörtert werden.
An jenem schicksalhaften 2. Juni fand man unter so manchem Quadrat noch ein sicherlich nett gemeintes #BlackLivesMatter. Zahlreiche Aktivist*innen wie auch Medienschaffende wandten sich daraufhin noch am selben Tag an ihre Followerschaft, mit der ferventen Bitte, das doch umgehend zu unterlassen. Der Grund: Hashtags sind ein wichtiges Tool für Aktivist*innen, Journalist*innen und thematisch interessierte Außenstehende; sie sind elementarer Teil der Nachrichtendynamik geworden. Für viele junge Erwachsene sind soziale Medien mittlerweile Hauptinformationsmedium. Was einst die Tageszeitung war, ist heute der News Feed. Verbindet man also beide Hashtags, sieht jemand, der sich über die Proteste informieren möchte, lediglich schwarze Rechtecke statt relevante Videoaufnahmen oder journalistische Beiträge.
Und damit sind wir in medias res: #BlackOutTuesday, ursprünglich von den zwei Managerinnen Brianna Agyemang und Jamila Thomas ins Leben gerufen und auf die Musikbranche bezogen, zählte am 2. Juni 21 Millionen Beiträge allein auf Instagram. Die Größe des Hashtags wie auch die vehementen Reaktionen auf die Art seiner Nutzung zeigen, dass Kommunikation per Social Media die Wirkweise politischen Aktivismus längst verändert hat.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Arbeit von Deen Freelon, Charlton D. McIlwain und Meredith D. Clark zur Entwicklung von #BlackLivesMatter und #Ferguson aus dem Jahr 2016. Der Report Beyond The Hashtags arbeitet heraus, dass Aktivist*innen durch Involvement nicht aktivistisch tätiger, bekannter Personen eine deutlich größere Zielgruppe erreichen können als bisher. Diese Personen, beispielsweise Künstler*innen oder Prominente, machen den aktivistischen Content durch Retweets, Shares und Hashtags einem breiten Publikumsspektrum zugänglich. Weiterhin identifiziert der Report einen substantiellen Unterschied zwischen #BlackLivesMatter und anderen online arbeitenden Bewegungen wie #Occupy, der das gesteigerte Involvement erklären könnte: Die visuelle Wirkmacht der Polizeigewalt, gegen die sich die Bewegung richtet. Hierzu heißt es auf Seite 79:
"Twitternutzer*innen, die zuvor keine bildhafte Vorstellung der Spannungen zwischen Polizei und Schwarzer Community hatten, sind schockiert ob der Gewalttätigkeit der Polizei in Ferguson. Wir verstehen diesen Schock als Hinweis auf einen emotional einschneidenden edukativen Prozess, angestoßen durch den Anblick des Leids der Protestierenden."
Zitiert wird auch eine Arbeit des Pew Research Center aus dem Jahr 2015. Diese zeigt, dass immer mehr US-Amerikaner*innen Handlungsbedarf bei der Rassismusbekämpfung erkennen – zwei Jahre, nachdem #BlackLivesMatter erstmals im öffentlichen Diskurs auftrat.
Hier gelingt nun die Rekursion zu #BlackOutTuesday. Der Hashtag erfüllt derer Funktionen zwei: Einerseits wirkt er als Magenbitter gegen die schwer verdaulichen Bilder, mit denen man sich beim Studium der Thematik notwendigerweise beschäftigen muss. Andererseits ist er im größeren Kontext der Sichtbarmachung rassistischer Strukturen als Mittel zur Generierung von Involvement zu verstehen. Zahlreiche Personen und Unternehmen nutzten den Hashtag als Gelegenheit, um Schwarzen Künstler*innen zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen.
Weiterhin verweisen möchte ich auf die Arbeit von Monica Anderson, ebenfalls tätig beim Pew Research Center. Die Studie "Activism in the Social Media Age" zeigt: Die Nutzung von sozialen Medien zur politischen Meinungsbildung ist omnipräsent, besonders ausgeprägt ist sie jedoch in nicht-weißen Communities. Schwarze Nutzer*innen antworten deutlich häufiger als weiße, Social Media sei wichtig oder sehr wichtig zum Finden von Gleichgesinnten (54 Prozent versus 39 Prozent), zur Involvierung in politische Anliegen (52 Prozent versus 36 Prozent) oder um die eigene politische Meinung auszudrücken (53 Prozent versus 32 Prozent). Heißt unter anderem: Offline beteiligen sich Schwarze mit weniger Selbstverständlichkeit am politischen Diskurs als Weiße, aus Gründen, gegen die gerade protestiert wird. Das (be)trifft mich spürbar, das zwickt, und zwar genau da im assoziativen Cortex, wo meine persönliche Definition von "Demokratie" gespeichert ist.
Herr Ungerer schreibt: "Mit der Betroffenheit ist es nämlich eine seltsame Sache. Die wirklich Betroffenen haben für sie gar keine Zeit. Und die Nichtbetroffenen, was sagen sie eigentlich damit aus, dass sie schwarze Quadrate auf Instagram raushängen?"
Nun, sie sagen: "Ihr, die ihr wirklich betroffen seid: Wir sehen euch. Wir stehen hinter euch. Und wir sind viele." Wie viele, das ließ sich bei den schweigenden Demonstrationen am letzten Wochenende ermessen. Die Massen, die in den Vereinigten Staaten, wie auch in Deutschland und dem Rest der Welt, zusammenkamen, waren kaum überschaubar – Covid-19, war da was? Die deutschen Polizeidienststellen lobten zumindest den Versuch der Teilnehmer*innen, die Abstandsregeln einzuhalten, doch bei diesen Menschenmengen musste das ein frommer Wunsch bleiben. Spätestens inmitten einer Pandemie ist organisierter Online-Massenprotest eine Option. Leider haben wir dafür noch kein How-To auf YouTube. Zwinker.
Diese Replik hat versucht, aufzuzeigen, welch immense Bedeutung soziale Medien bei der Dynamik von Protestbewegungen haben und warum sie besonders für Black People of Color relevant sind. Die Problematik, die sich aus der eingangs erwähnten widersprüchlichen Hashtag-Nutzung ergab, wirft die Frage auf, ob wir die Rolle sozialer Medien und deren algorithmischer Mechanismen im Kontext politischer Konsensfindung, aber auch in konkretem Bezug auf die Proteste seit George Floyds Tod, noch immer unterschätzen. #BlackOutTuesday beispielsweise hätte das Potential, zu einem wöchentlichen Event zu werden, bei dem wir ausschließlich Content der Schwarzen Community teilen.
Herr Ungerer schreibt abschließend: "Es gibt Rassismus, es gibt Gewalt, es gibt Unterdrückung. Überall und jeden Tag auf der Welt. Jeden Tag könnte man schwarze Quadrate teilen [...]" – und verdammt, der Mann hat absolut Recht. Doch macht es eine Ungerechtigkeit weniger ungerecht, wenn anderswo ebenso eine geschieht?
Wir könnten 24 Stunden am Tag auf den Straßen verbringen und hätten noch immer nicht genug Zeit, uns jeder institutionalisierten Schweinerei auf diesem Planeten zu widmen. Ist diese Erkenntnis entmutigend? Sicher – und genau deshalb lässt sich niemandem ein Strick aus dem Quadrat drehen. Wenn die Welt brennt, dann macht es keinen Unterschied, warum jemand löscht. Lediglich, ob und wie.