Wenn ein Generalvikar nur die halbe Wahrheit verkündet

Christen als Staatsbürger

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Reichstagsgebäude in Berlin, Sitz des Deutschen Bundestags
Reichstagsgebäude in Berlin, Sitz des Deutschen Bundestags

In der Welt durfte vorgestern der schweizerische Generalvikar Martin Grichting zu Wort kommen und darüber parlieren, ob man ein gläubiger Mensch und gleichzeitig ein guter Staatsbürger sein kann.

Der Generalvikar des Bistums Chur, Martin Grichting, hat etliche Wahrheiten parat, wie sich Christ-Sein mit staatsbürgerlichen Pflichten verträgt. Dabei ist Manches richtig und Manches aber auch erschreckend naiv.

So stellt Grichting richtig fest, dass sich Gläubige in die politische Debatte einmischen können. Dabei sei es "die Aufgabe der Laien, mit den in der Demokratie zulässigen Mitteln zu versuchen, dem, was ihrem Glauben entspricht, Gehör zu verschaffen." Soweit, so richtig. Ein Staat, schreibt er, in dem eine Religion direkt an den Hebeln der Macht säße, würde man mit gutem Recht "Gotteststaat" nennen. In der Demokratie jedoch sind alle Stimmen erlaubt und werden gehört.

Das klingt alles sehr vernünftig. Es übergeht aber (absichtlich?) die Frage nach dem Einfluss der Religionen auf die Politik. Denn auch wenn in Deutschland die größte Gruppe (36,2 Prozent) der Gesamtbevölkerung konfessionsfrei ist, zeigt die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages ein anderes Bild. Nach Recherchen der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (Fowid) sind nur rund 16 Prozent der Bundestagsabgeordneten konfessionsfrei. Das und die Tatsache, dass die Kirchenlobby einen viel zu großen Einfluss auf die Gesetzgebung hat, zeigen deutlich, dass der Einfluss der Kirchen hierzulande unangemessen hoch ist.

Beispielsweise hätte – wenn es nach dem Willen der übergroßen Mehrheit (rund 80 Prozent) der Bevölkerung gegangen wäre – das "Sterbehilfeverhinderungsgesetz" (§ 217 StGB) niemals in Kraft treten können. Kirchliche Lobbyisten haben jedoch das Gesetz gegen die Mehrheit der Bevölkerung trotzdem durchgesetzt.

Generalvikar Martin Grichting schreibt in seinem Gastbeitrag für die Welt auch, dass es "lediglich Loyalität zum Rechtsstaat, zu seinen Gesetzen und zu den Gesetzmäßigkeiten der Entscheidungsfindung in einer pluralistischen Gesellschaft" brauche, um Gläubige zu guten Staatsbürgern und Demokraten zu machen. Diese Loyalität zum Rechtsstaat ließen die Bundestagsabgeordneten aber vermissen, als sie den § 217 beschlossen.

Für den Generalvikar passen "Religionen mit Wahrheitsanspruch und die pluralistische Gesellschaft" immer dann zusammen, wenn Angehörige der Religionsgemeinschaft sich als Bürger politisch zu engagieren:

"Gefragt sind in der pluralistischen Demokratie nicht politisierende Religionsführer, sondern Angehörige von Religionsgemeinschaften, die sich als mündige Gläubige und Bürger einbringen."

Das sind nichts als schöne Worte von einem, der es besser weiß. Ob das Naivität oder bewusste Irreführung ist; das weiß allein der Generalvikar.