Innerhalb der vergangenen drei Jahre entwickelte sich Telegram zur wichtigsten Plattform für Verschwörungsideolog:innen und Rechtsextreme im deutschsprachigen Raum. Mit dem Messengerdienst erreichen zahlreiche Kanäle täglich Hunderttausende – die Anzahl der Aufrufe einiger Nachrichten geht in die Millionen.
Im neuen CeMAS-Report "Chronologie einer Radikalisierung: Wie Telegram zur wichtigsten Plattform für Verschwörungsideologien und Rechtsextremimus wurde" wird die Entwicklung Telegrams über den Zeitraum der vergangenen drei Jahre beleuchtet. Wie viele Menschen sehen die demokratiefeindlichen Inhalte auf der Plattform? Wer sind die reichweitenstärksten Meinungsführer:innen aus dem verschwörungsideologischen und rechtsextremen Milieu? Warum wird Telegram bei der Eindämmung des Hasses nicht selbstständig aktiv? Welche Regulierungsmöglichkeiten gibt es? Und welche Entwicklungen sind zukünftig zu erwarten?
Verschwörungsideolog:innen und Rechtsextreme auf Telegram
Telegram wurde bereits 2013 gegründet, trat im deutschsprachigen Raum jedoch erst seit 2018 stärker in Erscheinung. Nach der Löschung zahlreicher Social-Media-Profile der rechtsextremen Identitären Bewegung fand diese mit Telegram eine Plattform, die nach eigenen Angaben kaum Inhalte löscht und angeblich nicht auf staatliche Anfragen reagiert. Schnell bildeten sich zahlreiche lokale Gruppen der Identitären Bewegung, die als dezentrales Netzwerk Nachrichten über diese lokalen Netzwerke verteilen sollten, um unabhängiger von der Löschung reichweitenstarker Accounts zu werden. Ein Modell, das zu Beginn der Pandemie im April 2020 durch eine Facebook-Gruppe namens "Corona Rebellen" aufgegriffen wurde und zur Gründung zahlreicher lokaler verschwörungsideologischer Protestgruppen auf Telegram führte: In wenigen Wochen entstanden Gruppen wie "Nicht ohne uns", "Corona Rebellen Düsseldorf" oder auch "Querdenken 711 – Stuttgart".
Die Pandemie als Katalysator: Telegrams Wachstum seit 2020
Mit Beginn der Pandemie explodierte die Reichweite der Kanäle und Gruppen auf Telegram schlagartig. Die Anzahl an Abonnent:innen von Verschwörungsideolog:innen wie Oliver Janich wuchs innerhalb nur weniger Monate von 40.000 Anfang des Jahres 2020 auf zeitweise über 160.000 Abonnements bis Ende des Jahres. Während 2021 und 2022 etablierten sich darüber hinaus verschiedene "Alternativmedien" über die Plattform. Besonders relevant wurden hier die Portale des ehemaligen Focus-Journalisten Boris Reitschuster und das österreichische Alternativmedium AUF1 unter Leitung des Rechtsextremen Stefan Magnet. Mit derzeit etwa 256.000 (reitschuster.de) beziehungsweise 241.000 (AUF1) Abonnent:innen handelt es sich bei ihnen um die aktuell reichweitenstärksten verschwörungsideologischen Kanäle im deutschsprachigen Raum. Ihre Nachrichten erreichen durchschnittlich mehr als 100.000 Aufrufe und zählen täglich zu den meistgesehenen der Szene.
Auch die prorussische Desinformations-Influencerin Alina Lipp konnte seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine die Reichweite ihres Kanals "Neues aus Russland" auf derzeit mehr als 180.000 Abonennt:innen schnell steigern und damit sogar die vorherige Reichweite des in Deutschland gesperrten russischen Staatssenders RT DE (etwa 110.000 Abonnent:innen am 04.03.2022) übertreffen.
Der Mythos: Keine Einschränkungen durch Telegram?
Seit Beginn der Pandemie ist die Reichweite verschwörungsideologischer und rechtsextremer Akteur:innen auf der Plattform explodiert: Heute verbreiten im deutschsprachigen Raum mehr als 2.500 Kanäle und 1.800 Gruppen tagtäglich Verschwörungserzählungen und Desinformation. Dennoch lässt sich der von Telegram geschaffene Mythos, die Plattform würde nicht auf staatliche Anfragen reagieren und keine Kanäle und Gruppen löschen oder einschränken, nicht bestätigen. Denn Anfang 2022 nahmen die Sperrungen zu: Innerhalb kurzer Zeit wurden 57 der von CeMAS beobachteten verschwörungsideologischen und rechtsextremen Gruppen und Kanäle eingeschränkt und zum Teil gelöscht. In diesem Zeitraum kam es zu einem Treffen des deutschen Bundesinnenministeriums und Telegrams bei dem Google als Vermittler der Kontaktdaten zwischen den beiden Parteien auftrat.
Diese Erfahrung zeigt: Anders als von Rechtsextremen und Verschwörungsideolog:innen erhofft und vom Betreiber Telegrams Pawel Durov suggeriert, findet auch bei Telegram eine Moderation in Form von Beschränkungen und Einschränkungen von Accounts, Kanälen und Gruppen statt – bislang allerdings nur willkürlich und unsystematisch und nicht im ausreichenden Maße.
Telegrams Entwicklung begegnen – welche Ansätze wirken?
Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit werden über die Plattform Desinformation und Verschwörungserzählungen geteilt. Auf Telegram finden sich rechtsterroristische Gruppierungen, die sich dort international vernetzen. Dabei wird auch auf Finanzierungsmöglichkeiten über die Plattform zurückgegriffen. Da Telegram derzeit daran arbeitet, diese Möglichkeit der Bezahlung direkt auf ihrer Plattform weiter auszubauen, ist zu befürchten, dass sich zukünftig noch mehr Akteur:innen über die Plattform professionalisieren können. Um dieser Entwicklung gegenzusteuern und die Plattform-Betreibenden zu Handlungen zu bewegen, gibt es einige erfolgsversprechende Ansätze:
- Öffentlicher Druck führt dazu, dass Telegram sich bewegt. Telegram fürchtet um seine Reputation und vor allem die Konsequenz, aus den App Stores von Google und Apple entfernt zu werden. Öffentliche Berichterstattung über die Verfehlungen der Plattform sowie politischer Druck führten in der Vergangenheit dazu, dass Telegram, wenn auch unsystematisch, handelte.
- Auch ohne Kooperation der Plattform sind Ermittlungen und Strafverfolgung oft möglich. Die Festnahmen und Razzien der vergangenen Monate sowie zahlreiche investigative Recherchen zeigten, dass auch bei fehlender Kooperation der Plattformen die Ermittlung von Täter:innen möglich ist. Hierzu braucht es ein größeres Bewusstsein bei den (Ermittlungs-)Behörden für das Bedrohungspotenzial digitalen Hasses und digitaler Gewalt.
- Demonetarisierung kann ein wichtiges Mittel zur Begrenzung von Desinformation und Verschwörungsideologie darstellen. Die zunehmende Professionalisierung der Szene und die Möglichkeit der Finanzierung über Plattformen wie Telegram stellen uns vor große Herausforderungen. Da Telegram bisher kaum und nur willkürlich Sperren und Löschungen (sogenanntes Deplatforming) genutzt hat, ist es nötig, Maßnahmen in Betracht zu ziehen, die die monetäre Bereicherung und die Finanzierung von Desinformation und Verschwörungsideologie verhindern, beispielsweise durch Informationen an Werbetreibende sowie Zahlungsdienstleister auf den Plattformen.
- Content-Moderation muss transparent sein. Telegram arbeitet sehr willkürlich bei Sperren und Einschränkungen. Meldungen von Kanälen und Inhalten auf der Plattform haben keine erkennbaren Auswirkungen. Transparenzberichte und externe Kontrolle, auch über gesetzliche Regelungen wie den "Digital Services Act", müssen durchgesetzt werden.
Die ganze Studie von CeMAS ist hier online verfügbar.