E-Poetry – www.297names.com

Ein E-Gedicht anlässlich des Holocaust-Gedenktages, gewidmet den Opfern des KZ Husum-Schwesing

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Nach ein paar Sekunden verschwinden die Namen der Ermordeten. Durch das aktive Bewegen des Cursors tauchen sie auf dessen "Spur" wieder auf.
Namen der Ermordeten des KZs Husum-Schwesing (Ausschnitt)

Heute wird das E-Gedicht "297 Namen" auf 297names.com veröffentlicht. Das Konzept stammt vom Autor dieses Textes sowie von Jan Girlich (Umsetzung) und cylixe (Design). Doch was ist elektronische Poesie? Und was bedeutet E-Poetry für die Gedenkkultur?

E-Poetry ist durch Programmiersprache bewegter Text. Anders als bei Gedichten, die auf Papier geschrieben sind, hat der Text hier ein Benehmen, das auf den Leser reagiert. Diese besondere Eigenschaft zeigt sich dort als sinnstiftend, wo statische Kunst an ihre Grenzen stößt.

Ein statisches Kunstwerk steht in der KZ-Gedenkstätte Husum-Schwesing. Dort wurden zwischen dem 25. September und dem 27. Dezember 1944 über dreihundert Menschen mit Zwangsarbeit und Folter ermordet. An sie erinnern heute 300 Stelen, die vor Ort aufgestellt sind. Auf jeder Stele ist ein Opfername eingraviert. Das Konzept der Gedenkstätte sieht nun vor, die Namen auf den Stelen verblassen zu lassen. Besagter Vorgang solle uns daran erinnern, wie mühsam es sei, die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus aufrechtzuerhalten. Tatsächlich sind viele der Namen inzwischen derart verblasst, dass sie ganz unleserlich geworden sind. Niemand bringt sie zurück.

Das E-Gedicht "297 Namen" eröffnet uns nun einen symbolischen Handlungsraum. In der E-Poetry ist es dem Betrachter möglich, die Namen zurückzuholen. So wird direkt erfahrbar, worauf es in der Gedenkkultur ankommt.

Auf der Seite des E-Gedichts findet der Betrachter eine digitale Gedenkwand mit jenen Opfernamen, die uns heute noch bekannt sind. Mutmaßlich könnten jedoch bis zu 200 weitere Menschen im KZ Husum-Schwesing umgebracht worden sein. Diese unbekannten Toten sind im E-Gedicht durch blanke Stellen sichtbar gemacht.

Das E-Gedicht lässt sich nach unten hin abrollen. Die Reihenfolge der Opfer ist jedes Mal neu. Nach einigen Sekunden beginnen die Namen zu verblassen. Der Leser hat es in der Hand: Bewegt man den Mauszeiger auf einen der Namen, wird er wieder sichtbar. Bleibt man nicht dabei, beginnt das Vergessen von Neuem. Was dabei zum Ausdruck kommt, ist die kontinuierliche Aktivität, die auf die Opfer fokussiert bleiben muss.

E-Poetry ist eine eigenständige Kunstform. Eine Einführung bietet der TED-Vortrag von Leonardo Flores, Präsident der Electronic Literature Organization.

Der Text erschien zuerst auf der Webseite des Autors. Übernahme in leicht veränderter Form mit freundlicher Genehmigung.

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