Ein Betreiber von Notunterkünften für Flüchtlinge im Interview

Das ehrenamtliche Engagement ist überwältigend

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Dr. Heidi Knake-Werner, Vorstand der Volkssolidarität Berlin, Andre Lossin, Berliner Landesgeschäftsführer, Dr. Wolfram Friedersdorff, Bundesvorstand der Volkssolidarität (v.l.n.r.)

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Die Außenansicht der Notunterkunft in der Rudolf-Leonard-Straße in Marzahn, eine Turnhalle
Außenansicht der Notunterkunft

BERLIN. (hpd) Die Volkssolidarität betreut seit mehr als 70 Jahren Flüchtlinge. Der hpd sprach mit Andre Lossin, dem Berliner Landesgeschäftsführer des Verbandes, der unter anderem in Berlin vier Notunterkünfte für Flüchtlinge betreibt.

hpd: Herr Lossin, was vermutlich die wenigsten wissen: Flüchtlingsarbeit gehört seit Gründung der Volkssolidarität vor über 70 Jahren zu den Kernaufgaben Ihres Verbandes.

Andre Lossin: Die Volkssolidarität hat sich am 17. Oktober 1945 in Dresden gegründet. In dem Gründungsaufruf "Volkssolidarität gegen Wintersnot" von Kirchen, Gewerkschaften und Parteien ging es ganz pragmatisch um die Betreuung von Flüchtlingen und anderen Bedürftigen, damit sie erstmal durch den Winter kommen. Dieses Selbstverständnis haben wir dann in den Folgejahren ausgebaut. Für uns ist unser aktuelles Engagement für Flüchtlinge eine Rückbesinnung auf unsere Wurzeln und unsere Identität. Wir sind als Volkssolidarität für alle da, unabhängig davon, vorher jemand kommt, welche politische oder religiöse Zugehörigkeit jemand hat oder wen er oder sie liebt.

Die Volkssolidarität Berlin betreibt vier Notunterkünfte für Flüchtlinge aus verschiedenen Nationen. Was sind die aktuellen Aufgaben bei der Unterbringung der Schutz suchenden Menschen?

In unseren vier Notunterkünften arbeiten wir täglich daran, Menschen in den bestehenden räumlichen Möglichkeiten ein Zuhause zu geben. Das ist in einer Turnhalle natürlich eine größere Herausforderung als in einem Gebäude mit Zimmern und Toiletten. Daneben organisieren wir in Zusammenarbeit mit den Strukturen im Kiez und unseren vielen Ehrenamtlichen Angebote, um unseren Bewohnerinnen und Bewohnern neben dem Warten auf Termine bei Behörden oder auf den Deutschkurs auch andere Beschäftigung und Abwechslung zu bieten.

Wenn Menschen in Flugzeughangars oder Turnhallen auf wenig Raum zusammen leben, gibt es Probleme. Spielen religiöse Konflikte eine Rolle? Wie wird man damit fertig?

Stellen Sie sich vor, Sie leben mit 200 anderen Menschen in einem großen Raum. Sie haben keine Privatsphäre, keine eigenen Möbel und kein Zimmer, in das Sie sich zurückziehen können. Natürlich für das zu Spannungen. Dabei geht es oft um ganz alltägliche Dinge wie die Frage, ob das Licht in der Halle an oder aus ist. Angehörige einer Nationalität oder einer Ethnie sind sich häufig näher als Menschen aus unterschiedlichen Kontinenten. Religion spielt dabei aber keine Rolle.

Was wird vor Ort gebraucht?

Wir bekommen als Träger von Notunterkünften vom Land Berlin Geld für die Erstausstattung, Vollverpflegung und Unterbringung von geflüchteten Menschen. Dinge wie Bettwäsche, Handtücher, Reinigung und Essen sind damit abgedeckt. Alles, was darüber hinausgeht, müssen wir aus Spenden finanzieren, zum Beispiel die Taxifahrt vom Krankenhausaufenthalt zurück in die Unterkunft, Medikamente oder Hygieneartikel.

Was Ehrenamtliche in der Flüchtlingskrise seit Monaten leisten, ist enorm. Was motiviert Menschen zu helfen und sich dabei in ihrer Freizeit eine Menge Arbeit aufzuhalsen?

Die Motivation, Menschen zu helfen, kann viele Gründe haben. Manche unserer Mitglieder sagen, Ihnen selbst sei als Flüchtlingen nicht geholfen worden und sie möchten es jetzt besser machen. Oder weil ihnen geholfen wurde, möchte sie das heute ebenfalls tun. Andere sagen, es geht ihnen gut und sie haben viel und wollen etwas zurückgeben, Dritte wiederum schöpfen Kraft aus der Dankbarkeit, die sie bei ihrem Engagement erfahren.

Entscheidend ist doch, dass Ehrenamtliche nicht mit einer Erwartungshaltung kommen, die nicht erfüllt werden kann. Ansonsten ist jeder Mensch frei, und willkommen, sich bei uns zu engagieren. Wichtig finde ich nur, dass sich die Motive für ehrenamtliches Engagement mit unserem Leitbild vereinen lassen und die Hauptamtlichen und natürlich die Bewohnerinnen und Bewohner vor Ort gut mit den Ehrenamtlichen zurechtkommen.

Es werden weitere Flüchtlinge kommen, die Hilfe brauchen. Sorgen Sie sich, dass das freiwillige Engagement abnehmen wird?

Das ehrenamtliche Engagement der vergangenen Monate hat uns richtiggehend überwältigt. Es ist uns aber klar, dass diese Intensität des Engagements nicht auf Dauer haltbar ist.

Nehmen wir einen Angestellten, der jeden Tag drei Stunden nach der Arbeit in einer Notunterkunft hilft. Das ist über Monate hinweg wirklich anstrengend. Wir müssen diese enormen Anstrengungen als Sozialverband zum Beispiel mit Dankeschön-Veranstaltungen anerkennen und den Ehrenamtlichen damit etwas zurückgeben. Ihr Beitrag kann mit Gold nicht aufgewogen werden.

Der Hildesheimer Migrationsexperte Hannes Schammann hat kürzlich für die Freiwilligen in der Flüchtlingsarbeit eine Supervision gefordert. Was halten Sie davon?

Das ehrenamtliche Engagement in der Flüchtlingsarbeit hat erst eine so große Bedeutung bekommen, weil die Behörden nicht mehr dazu in der Lage waren, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Wenn die Behörden ihre Aufgabe nach wie vor nicht erfüllen können und Ehrenamtliche dies stattdessen tun, sollten Ehrenamtliche dabei entsprechend unterstützen werden.

Für etwa 80.000 Flüchtlinge ist Berlin ein Zufluchtsort geworden, von dem sie Sicherheit erhoffen. In der Realität sieht es aber eher danach aus, dass die politisch Verantwortlichen und Behörden weder eine Strategie noch ein Konzept zur Bewältigung der Flüchtlingssituation haben.

Es ist richtig, 2015 sind insgesamt etwa 80.000 Flüchtlinge nach Berlin gekommen. Davon sind rund 55.000 in der Stadt geblieben, die anderen wurden auf andere Bundesländer verteilt oder sind in einen anderen Staat weitergezogen. Und nach wie vor wird vor allem die Ausnahmesituation verwaltet. Aber es gibt schon Ansätze, die, wenn sie weiter konsequent verfolgt werden, den Integrationsprozess erfolgreich begleiten können.

Uns als Sozialverband und Träger von Notunterkünften sehe ich hier auch in der Verantwortung. Nehmen wir ein Beispiel: Es gibt Arbeitsgelegenheiten für geflüchtete Menschen. Dagegen haben wir prinzipiell nichts einzuwenden, aber sie müssen mindestens mittelfristig in Jobs auf dem ersten Arbeitsmarkt münden. Ansonsten ist das nicht der richtige Weg.

An der Integration der Flüchtlinge in die bundesdeutsche Gesellschaft führt kein Weg vorbei. Was muss nach Ihrer Auffassung konkret passieren, um diese Aufgabe zu lösen?

Eines habe ich schon erwähnt: Integration muss über Arbeit erfolgen. Dabei spielt Sprache eine Schlüsselrolle – auf der Jobmesse für geflüchtete Menschen hatten wir mit unseren Sozialdiensten einen Stand.

Wir sind stets auf der Suche nach Pflegekräften oder auch Erzieherinnen und Erziehern und hatten dort auch viele gute Gespräche. Aber solange Sprachkenntnisse nicht vorhanden sind, ist ein Einstieg in die Arbeitswelt nicht möglich.

Vielen Dank für das Interview.

Die Fragen stellte Erik Dorn für den hpd.