Kommentar

Emotion und Populismus sind keine Gradmesser für den Rechtsstaat

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Justizia
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KONSTANZ. (hpd) Kürzlich ging ein Aufschrei durch die Republik: Ein erst 13-Jähriger hatte einen Freund offenbar beim Spielen getötet. Nie zuvor war der Täter auffällig gewesen, für den schrecklichen Vorfall gab es zunächst keine Erklärung. Ohne die Ermittlungen abzuwarten, ließen die Reaktionen aus einigen gesellschaftlichen und politischen Kreisen nicht lange auf sich warten: Die Strafmündigkeit von derzeit 14 Jahren müsse herabgesetzt werden, damit künftig auch jüngere Täter wie der jetzige strafrechtlich verfolgt werden könnten.

Ähnlich ein Jahr nach dem "Germanwings"-Absturz: Mit wilden Zuschreibungen an den Co-Piloten vom "Massenmörder" bis hin zu "Wir werden nie verzeihen" machten sich nicht nur Angehörige der Opfer ihrer Wut Luft. Oder auch, als neulich wieder Daten über Übergriffe auf Polizeibeamte öffentlich wurden – das Rufen nach härteren Strafen war die prompte Antwort aus dem zumeist bürgerlich-konservativen bis hin zu rechtsradikalen Lager.

Reflexartig sind viele von uns mit der Justiz unzufrieden: Zu harmlos sei sie, würde sich zu sehr an den Tätern orientieren. Ich halte entgegen: Unsere Rechtsstaatlichkeit baut vornehmlich auf dem Prinzip der Balance auf. Und sie besagt, dass es nicht nur gegenüber den Opfern, sondern auch gegenüber den Verursachern gerecht zugehen muss. Da ist kein Platz für Populismus.

Nicht umsonst ist Justitia blind und mahnt zur unabhängigen Entscheidung. Zurufen aus welchen Ecken auch immer darf sie nicht nachgeben, denn Demokratie würde sich erpressbar machen, wenn diejenige der drei Gewalten, die letztlich über alle Entscheidungen wachen muss, auf Befindlichkeiten der Öffentlichkeit eingehen würde. Schon viel zu oft mussten wir den Eindruck gewinnen, dass Urteile von Wünschen der einzelnen Beteiligten oder aber auch der medialen Berichterstattung geprägt waren. Da darf es keine Versuchung geben, sich Polemik hinzuwerfen.

Und wenn die richtende Dame mit ihrer Waage in den Händen auf die Verhältnismäßigkeit aufmerksam macht, dann hat das wenig mit Nachsicht zu tun. Viel eher steht diese Mahnung für ein vernunftmäßiges Abwägen in allen Prozessen. Und so bleibt es eine Frage von Rationalität, Kinder unter 14 Jahren nicht zu verurteilen, sondern ihnen zu helfen. Weder ihre Einsichtsfähigkeit ist derart gewährleistet, dass Bestrafung überhaupt Sinn ergeben würde. Noch wäre hier ausreichend gesichert, dass man die offenkundig tiefliegenden Ursachen erkunden und dem ja gerade erst am Anfang eines Lebens stehenden Menschen irgendwann eine Zukunft ohne Vorbelastung garantieren könnte.

Gegner einer solchen Haltung würden nun erwidern, auch das Opfer habe kein Leben mehr vor sich, es ist tot. Man fragt sich nur: Was hätten wir davon, wenn auch der Täter nun mit größter Härte bestraft würde? Allein unsere Sehnsucht nach Rache würde befriedigt, denn Gerechtigkeit wäre keinesfalls hergestellt. Sie ist als subjektives Empfinden ohnehin kein guter Gradmesser, müsste für objektive Maßstäbe doch davon ausgegangen werden, dass Vergleichbarkeit besteht. Solange aber Außenstehende Richter sind, wird sich Rechtschaffenheit nur bis zu einer normierten, nicht aber differenzierten Ebene durchsetzen lassen.

Um in unseren menschlichen Grenzen überhaupt urteilen zu können, ist es gleichsam nötig, Rahmenbedingungen zu schaffen. Dazu gehört die natürliche Voraussetzung, wonach vor Gericht alle gleich sind. Doch ist das heute wirklich so?

Greift ein Demonstrant einen Polizisten an, so soll er nach Meinung mancher Politiker scharf bestraft werden. Schlägt ein Polizist im Einsatz zu, wird dies im besten Falle milde abgetan, so zeigen es die Erfahrungen. Ist eine Körperverletzung deshalb schwerwiegender zu beurteilen, weil sie an einem Beamten begangen wurde? Und warum kommt es gerade dann, wenn der Verdacht einer Straftat "im Amt" aufkommt, so häufig zu Einstellungen von Verfahren?

Möglicherweise ist unser Rechtssystem schon heute viel zu anfällig für den klientelhaften Einfluss diverser Gruppierungen. Da wird wuchtig argumentiert, warum die gleiche Tat an unterschiedlichen Personen bei gleichen Umständen auch zu verschiedenen Urteilen führen soll. Dort, wo sonst das Drücken auf die Tränendrüse als unredliche Maßnahme der Verteidigung bemängelt wird, wird Psychologie plötzlich zum Wegweiser für Strafzumessungen.

Dass man aber nur auf psychologische Daten blickt, wenn es um die eigenen Belange geht, zeigt auch die Tatsache, dass Gnadenlosigkeit gegenüber den Anderen bis heute Konjunktur hat. Bei schwersten Verbrechen bricht gerade aus den extremen Nischen rechtsaußen die Forderung nach der Rückkehr der Todesstrafe auf. In der Schweiz war man kurz davor, ein Referendum über die Wiedereinführung zu starten. Doch mehr als das "Auge um Auge, Zahn um Zahn" können die Befürworter nicht an Begründung liefern, wenn es darum geht, weshalb wir sie denn wieder bräuchten.

Vergeltung und die zur Schaustellung von der Macht des Staates – mehr als ein selbstgerechtes Beweisen von Stärke ist es nicht, denn wer sich langfristig am Tod eines Anderen ergötzt, hat die Weltordnung eines aufeinander angewiesenen Miteinanders nicht verstanden.

Man muss nicht einmal die Diskussion bemühen, ob es dem Staat – und schon gar nicht Opfern oder sonstigen Dritten – überhaupt zustünde, einen Täter auf diese Art und Weise zu richten, ohne dabei nicht in willkürliche Besessenheit nach egozentrischer Überheblichkeit zu verfallen. Denn selten hat man Hinterbliebene oder Geschädigte von Straftaten gesehen, die durch das größtmögliche Strafmaß für ihre Peiniger eine dauerhafte Zufriedenheit verspürten. Den Schmerz nimmt eine Verurteilung nicht, er kann nur aufgearbeitet werden.

Und so trägt sowohl die Opfer, aber auch die Täter der Gedanke von Reue viel mehr. Es ist niemandem abzuverlangen, nach einer Straftat zu verzeihen. Und jeder benötigt seine eigene Zeit, um möglicherweise ein Fehlverhalten des Gegenübers zu vergeben. Manches Mal gelingt es auch gar nicht. Und gleichsam sind es gerade diejenigen Täter, die im Strafvollzug durch Unterstützung zur Einsicht gelangen, für ihre Verantwortung einzustehen, die am Ende die besten Aussichten auf eine Resozialisierung haben. Sie haben es verdient, dass ihr Versuch um Entschuldigung zumindest angehört wird.

Wer versteht, wie es zu einer Tat gekommen ist und wer gleichzeitig in die Lage versetzt wird, Ursachen hierfür herauszufinden und an ihrer Beseitigung zu arbeiten, der kann überzeugend auf die zugehen, denen durch sein Handeln schreckliches an Leid zuteil wurde. Opfer-Täter-Ausgleiche, aber vor allem die intensive psychotherapeutische, sozialpädagogische und medizinische Betreuung sind daher ein wesentlicher Schritt, um neue Straftaten zu verhindern, viel eher aber, um Rechtsfrieden zu schaffen. Und ja, auch wenn es manch Hardliner nicht gern hört: Auch im Gefängnis und vor Gericht gelten die universellen Menschenrechte. In einer Demokratie besteht der unabänderliche Anspruch auf humane Behandlung, auf gesundheitliche und soziale Unversehrtheit – eben auch hinter Gittern. Und nein, da wird nicht der, der straffällig wurde, auch noch umsorgt, sondern da werden Standards realisiert, die wir aus Werten der Aufklärung errungen haben.

Nicht das Pauschale trägt unser Rechtssystem, aber auch nicht die Gefühle. Viel eher sind wir in Justiz und Strafvollzug heute mehr denn je darauf angewiesen, aus Pflicht zur Menschlichkeit mit Unbefangenheit eine konstruktive Zukunft für alle Beteiligten zu entwickeln. Dass Täter die Rechte des Opfers missachtet und oftmals gar zerstört haben, ist nicht zu rechtfertigen. Aber es steht uns nicht zu, die eines anderen nun ebenso zu nehmen.

Humanität ist manches Mal schwer auszuhalten – und trotzdem ist sie nötig, um eben gerade nicht denen Platz zu lassen, die am lautesten schreien und für sich proklamieren, die Welt zu richten. Nein, nicht Emotion oder auch Streit sollten uns in unseren Forderungen an die Justiz und ihre Urteile prägen, sondern die Bereitschaft, daran zu arbeiten, auch weiterhin Gerechtigkeit zu fördern. Dazu gehört eine Reform des Strafvollzuges, die auch denjenigen Perspektiven eröffnet, die wieder Teil der Gesellschaft werden können und wollen. Dazu gehört aber auch eine veränderte gesellschaftliche Einstellung zu dem, worüber heute meist nur dann gesprochen wird, wenn Hetze und Verurteilung auf den Plan rücken: Straftaten gehören zu unserer Realität – und auch bei notwendiger und weiter zu ermunternden Prävention wird es sie immer geben.

Deshalb braucht es Fürsprecher, die sich gegen opportunistische Erregung stellen, wenn es darum geht, die scheinbare Aufrichtigkeit der Justiz für sich zu vereinnahmen.