Analyse

Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs – konträre Meinungen in der Bevölkerung?

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Demonstration des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung vor dem Brandenburger Tor in Berlin
Demonstration des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung

Der Abbruch einer Schwangerschaft ist in Deutschland derzeit noch eine Straftat. Seit Ende März prüft eine Kommission im Auftrag der Bundesregierung, ob Abtreibungen künftig entkriminalisiert und außerhalb des Strafrechts geregelt werden können. Wie steht die Bevölkerung dazu? Soll der Paragraf 218 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden? Schaut man sich einige aktuelle Umfragen an, bleibt man ratlos zurück. Für beide Positionen – Streichung und Beibehaltung – finden sich anscheinend Mehrheiten. Wie kommt es zu diesen widersprüchlichen Umfrage-Ergebnissen?

Im Dezember 2022 führte das Institut Ipsos im Auftrag des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung eine Umfrage durch. In einer Pressemitteilung veröffentlichte das Bündnis im März 2023 das Ergebnis: 55 Prozent der Befragten sprachen sich für eine Streichung des Strafrechtsparagrafen 218 aus. Weitere 28 Prozent stimmten einer Entkriminalisierung unter bestimmten Bedingungen zu. Insgesamt befürworteten also 83 Prozent die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs.

Über ein gegenteiliges Ergebnis informierte das ZDF-Magazin "frontal" am 6. Juni: "Eine Mehrheit der Bevölkerung spricht sich dafür aus, den Abtreibungs-Paragraf 218 des Strafgesetzbuches (StGB) beizubehalten." 54 Prozent der Befragten seien dafür.

Kurz danach, am 13. Juni, berichtete die katholische Wochenzeitung Tagespost über das Ergebnis einer INSA-Umfrage, die die Zeitschrift in Auftrag gegeben hatte: 68 Prozent der Befragten sind demnach dagegen, dass Abtreibung in Deutschland eine Straftat bleibt. Nur 19 Prozent wollen an der Strafbarkeit festhalten.

Widersprüchliche Umfrageergebnisse? – Ein Erklärungsversuch

Weiß die Bevölkerung nicht, was sie will, oder wie lassen sich solche gegensätzlichen Ergebnisse erklären? Wenn man sich die genaue Fragestellung ansieht, kommt man der Sache schnell auf die Spur.

Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung hat im Dezember 2022 in seiner repräsentativen Umfrage zwei Fragen gestellt. Entscheidend für das Verständnis sind die erste Frage und die drei Antwortmöglichkeiten, die zur Auswahl standen:

1. Frage: Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland laut Gesetz eine Straftat und nur unter bestimmten Bedingungen straffrei. Was ist Ihre Meinung, sollen Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland entkriminalisiert werden?

Antwort 1: Ja, Schwangerschaftsabbrüche sollen entkriminalisiert werden und auf Wunsch der Schwangeren möglich sein.

Antwort 2: Ja, Schwangerschaftsabbrüche sollen entkriminalisiert werden, allerdings nur unter bestimmten Bedingungen.

Antwort 3: Nein, Schwangerschaftsabbrüche sollen weiterhin als Straftat im Strafgesetzbuch behandelt werden.

Antwort 1 impliziert, dass natürlich nur jene Schwangerschaftsabbrüche straffrei bleiben sollen, die die Schwangere wünscht, nicht aber jene, die gegen ihren Willen durchgeführt werden. Antwort 2 sieht eine Straffreiheit unter bestimmten Bedingungen vor. (Diese werden in der zweiten Frage konkretisiert und abgefragt.) Schließlich wird in Antwort 3 der Anteil der Befragten ermittelt, der den Schwangerschaftsabbruch als Straftatbestand im Strafgesetzbuch belassen will.

Im Ergebnis befürworten bei dieser Umfrage insgesamt 83 Prozent eine Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Nur eine Minderheit von 9 Prozent möchte Abtreibungen weiterhin als Straftat im Strafgesetzbuch sehen. 10 Prozent machen keine Angaben oder wissen es nicht.

Das ZDF hatte für einen Beitrag im Magazin "frontal" eine Umfrage bei der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen in Auftrag gegeben. Diese kam zu einem gegenteiligen Ergebnis. Auch hier handelte es sich um eine repräsentative Umfrage. An der befragten Zielgruppe kann es also nicht liegen. Hat die Bevölkerung innerhalb eines halben Jahres ihre Meinung radikal geändert? Auch dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Hier kommt man der Sache näher, wenn man sich die Fragestellung genauer anschaut. Nach einer längeren Einleitung folgt die Frage an die Teilnehmer:innen der Umfrage, es werden ihnen vier Antwortmöglichkeiten angeboten:

Aktuell ist ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nach Paragraf 218 Strafgesetzbuch verboten und nur bei Ausnahmen straffrei, zum Beispiel bis zur 12. Schwangerschaftswoche und nach einer Pflichtberatung bei einer staatlich anerkannten Stelle. Jetzt prüft die Regierung die Abschaffung von Paragraf 218 Strafgesetzbuch und eine andere Regelung.

Was meinen Sie, sollte bei uns der Paragraf 218 weiter gelten und ein Schwangerschaftsabbruch nur bis zur 12. Woche und mit Pflichtberatung straffrei sein, sollte der Paragraf 218 abgeschafft werden und ein Schwangerschaftsabbruch generell und ohne Einschränkungen erlaubt sein, oder sollten die aktuellen Regelungen verschärft werden und ein Schwangerschaftsabbruch ohne Ausnahmen verboten sein?

Paragraf 218 sollte

weiter gelten,

abgeschafft werden,

verschärft werden,

weiß nicht.

Hier hat man nur die Wahl zwischen einer Abschaffung ohne weitere Regelung oder der Beibehaltung einer Regelung im Strafgesetzbuch. Die Möglichkeit, den Paragrafen 218 durch eine alternative Regelung zu ersetzen, wird nicht angeboten. Stattdessen wird gefragt, ob der Schwangerschaftsabbruch "generell und ohne Einschränkungen erlaubt sein" soll. Vor die Wahl gestellt zwischen völliger Freigabe und Beibehaltung der bisherigen Regelung, tendieren Menschen in der Regel zur Mitte. Dies ist bei den vorgegebenen Alternativen die Antwortmöglichkeit "Paragraf 218 sollte weiter gelten". Dafür sprach sich eine Mehrheit von 54 Prozent aus. Unter diesen Umständen ist es erstaunlich, dass immerhin noch 36 Prozent für die Abschaffung jeglicher Reglung sind. Ganz anders sieht es in der Altersgruppe der Frauen unter 35 Jahren aus. Dies ist die unmittelbar betroffene Gruppe. Hier will eine Mehrheit von 50 Prozent die Strafbarkeit abschaffen und nur 44 Prozent den Paragrafen 218 beibehalten.

Am 13. Juni war in der katholischen Tagespost zu lesen: "Die große Mehrheit der Deutschen (68 Prozent) ist nicht dafür, dass Abtreibung weiterhin als eine Straftat gilt." Und dass eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA Consulere im Auftrag der Tagespost zu diesem Ergebnis gekommen sei. Mehr ist leider nicht zu erfahren, da sich der Artikel hinter einer Paywall befindet.

Bereits im vergangenen Jahr hatte die Tagespost in einer repräsentativen Umfrage um eine Stellungnahme zu der Aussage gebeten: "Es ist gut, dass sich der Papst und Kirche gegen Abtreibungen aussprechen." 

Die ablehnende christliche Position zum Schwangerschaftsabbruch findet in der Bevölkerung keinen Rückhalt. 63 Prozent weisen sie zurück. Selbst unter Katholiken stößt die Aussage auf Ablehnung. Insgesamt 58 Prozent finden es nicht gut, "dass sich der Papst und Kirche gegen Abtreibungen aussprechen". Bei den Protestanten lehnen 67 Prozent diese Haltung von Kirche und Papst gegen Abtreibung und für den Lebensschutz ab.

Wenn man differenziert fragt, wie bei der Umfrage des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung oder der Tagespost, erhält man auch aussagekräftige Antworten.

Weltweit spricht sich eine Mehrheit dafür aus, dass Abtreibung legal sein soll

Das zeigt auch eine weltweite Umfrage, die kürzlich von Ipsos durchgeführt wurde. Weltweit ist eine Mehrheit der Meinung, dass Abtreibung legal sein sollte. 56 Prozent der Befragten sind dafür, 28 Prozent dagegen und 16 Prozent wissen es nicht oder wollen sich zu dieser Frage nicht äußern. Die Zustimmung variiert von Land zu Land. Am höchsten ist die Zustimmung in Schweden (87 Prozent) und Frankreich (82 Prozent), am niedrigsten in Malaysia (29 Prozent) und Indonesien (22 Prozent). In weiteren Fragen wurde auch hier nach einzelnen Bedingungen unterschieden, unter denen ein Schwangerschaftsabbruch legal sein sollte. Die Dokumentation der gesamten Umfrage kann als PDF-Dokument heruntergeladen werden.

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