Auf Erasmus von Rotterdam nimmt nicht nur die Europäische Union mit ihrem Programm zur Förderung eines Studiums im Ausland Bezug, sondern seit kurzem auch eine politische Stiftung, die einer Partei nahesteht, die kaum mit Kosmopolitismus in Verbindung gebracht werden dürfte. Wer also war dieser Renaissance-Denker? Die Humanistische Akademie ist auf einer Tagung dieser Frage nachgegangen. Nun sind die Beiträge als Sammelband erschienen, beleuchten nicht nur Leben und Werk des Erasmus, sondern auch den Humanismus seiner Zeit und die Geschichtspolitik derer, die ihn vereinnahmen. Der hpd sprach mit Herausgeber Ralf Schöppner über die Perspektiven auf den Humanisten.
hpd: Die Partei Alternative für Deutschland (AfD) hat eine parteinahe Stiftung, die nach Erasmus von Rotterdam benannt ist. Nach einem alten, weißen Mann mit judenfeindlichen Einstellungen – passt doch, oder?
Ralf Schöppner: Alte weiße Männer sind etwas in Verruf geraten, gewiss nicht zu Unrecht, aber doch wohl allzu pauschal. Mir scheint auch, das wird immer mehr zu einem bloßen Reflex, der das Nachdenken ersetzt und Meinungen allein durch Hinweis auf Sprecherposition delegitimieren soll. Erasmus war christlicher Humanist und Religionskritiker, seine Schriften wurden von Rom auf den Index gesetzt, er wetterte gegen den Judaismus, nicht gegen Juden. Aber das ist kompliziert und es lohnt sich, die Buchbeiträge von Hildegard Cancik-Lindemaier und Enno Rudolph dazu zu lesen.
Als die AfD die Desiderius-Erasmus-Stiftung als parteinahe Stiftung anerkannte, wurden aber seriöse Stimmen laut, die Erasmus Judenfeindlichkeit vorwarfen, Micha Brumlik beispielsweise. Lässt sich dem etwas entgegensetzen?
Diese Wortmeldung wird aufgegriffen im Buch. Die Quellen der Studie von 1969, auf die Brumlik sich bezieht, sind quantitativ dürftig und ihre Interpretation philologisch fragwürdig. Unsere Autorin analysiert subtil Erasmus' Originaltext. Erasmus hat nicht wie Luther gegen Juden gehetzt, war aber von einem zeitgenössischen theologischen Antijudaismus mitgeprägt. Auffällig ist eher, dass er als Humanist und Universalist nicht auch die reale jüdische Verfolgungsgeschichte kommentierte und das Gewaltpotenzial seiner rhetorischen Figuren erkannte. Das Buch zeigt aber vor allem die vielfältigen heutigen Anschlusspotenziale von Erasmus auf: seinen Kosmopolitismus, seinen Einsatz für Freiheitsrechte, seinen Pazifismus, seine Toleranz, seine behutsame Humanität.
Was wissen wir eigentlich über Erasmus von Rotterdam? Können wir belastbare Aussagen treffen, was der Mann wirklich dachte oder wird er nur als Projektionsfläche genutzt?
Die AfD nutzt ihn sicherlich als Projektionsfläche. Die Buchbeiträge von Gideon Botsch und Maren Behrensen analysieren ihre geschichtspolitischen Strategien. Wir kennen das umfangreiche Werk von Erasmus, haben um die dreitausend erhalten gebliebene Briefe, aus denen wir auch viel zur Person erfahren, es gibt eine Reihe von Biografien. Das spricht alles eine ganz andere Sprache. Das hat nichts zu tun mit völkischem Nationalismus, Rechtsextremismus, Populismus, Autoritarismus. Es ist das genaue Gegenteil.
Wie ist Erasmus denn einzustufen: Als Philosoph? Als Universalgelehrter? Als Reformer? Auf welchen Gebieten liegen seine bleibenden Leistungen?
Erasmus lehnte die ihm angebotenen Bürgerrechte verschiedener Städte ab, weil er sich nicht einer Stadt oder einem Land zugehörig fühlte, sondern sich als Bürger der Welt verstand. Europa war ihm Republik und Kulturraum, ohne Grenzen und gastfreundlich. Er argumentierte nicht für gerechte Kriege, sondern für Pazifismus. Sein Ordenskleid hat er nicht getragen und dem Kloster entzog er sich, weil er lieber reisender Freigeist sein wollte. Er setzte sich für Meinungs- und Religionsfreiheit ein – nicht ohne Risiko in seiner Zeit. Anstelle von engstirniger Parteilichkeit warb Erasmus stets für Ausgleich und Verständigung.
Erasmus lebte in einer Zeit, in der ja nicht nur die Texte der Antike neu rezipiert wurden und der Blick auf die Welt sich dadurch veränderte – gleichzeitig entstand die kapitalistische Form der Warenproduktion und der Startschuss für die Kolonisierung der Welt durch Europa fiel. Was davon spiegelt sich in seinem Werk?
Frieder O. Wolf bettet in seinem Text Erasmus' Wirken und Werk in die Geschichte der frühen Entwicklung kapitalistischer Produktionsbedingungen und der Herausbildung des modernen Staates in Europa ein. Er sieht bei Erasmus wie auch bei den Humanisten Thomas Morus, John Colet und Juan Luís Vives eine frühe Form von Kapitalismuskritik. Dieses "Viergestirn" habe aber auch bereits in der Widersprüchlichkeit von einerseits humanistischer Oberfläche und andererseits materieller Abhängigkeit agiert.
Andere Renaissance-Humanisten entwarfen politische Konzepte oder bekleideten sogar, wie Thomas Morus, politische Ämter. Wie hat Erasmus sich diesbezüglich verhalten?
Erasmus war kein Lautsprecher, eher eine zurückhaltende und vorsichtige Natur. Politische Ämter dürften nicht sein Ding gewesen sein, dafür braucht man Willen zur Macht und zur Durchsetzung eigener Positionen. Moderator und Vermittler im Hintergrund, das hätte vielleicht gepasst. Übersehen wird aber oft, wie sehr er ein politischer Autor war, zum Beispiel in seiner Perspektive auf Europa oder den Pazifismus. Er hat gewirkt durch seine Schriften, vor allem auch seine Korrespondenzen mit einflussreichen Personen – und nicht zuletzt als Erzieher.
War Erasmus nach damaligen Maßstäben "tolerant" – beispielsweise gegenüber religiösen Minderheiten? Und wie wären seine Positionen aus heutiger Sicht zu beurteilen?
Man kann Erasmus als ein humanistisches Beispiel dafür sehen, dass Toleranz und Zurückhaltung in Bezug auf Wahrheit keineswegs zum oft befürchteten "anything goes" führen müssen. Erasmus glaubte fest an seine Wahrheiten, seine Toleranz richtete sich nicht auf Wahrheit, sondern auf Menschen. Dem anderen nicht bei jeder Gelegenheit umstandslos die eigene Position anzupreisen, sondern in pragmatischer Weise die jeweiligen Umstände und die Besonderheit der Gesprächspartner berücksichtigen: Das ist aktueller denn je, auch wenn es immer Leute gibt, denen man anders begegnen muss.
Ist Erasmus insofern ein gutes "Versuchsobjekt", einen Weg der Traditionspflege zwischen der Aufstellung humanistischer Säulenheiliger und weitgehender Geschichtsvergessenheit zu finden?
Säkulare Humanist*innen schauen gelegentlich einigermaßen naserümpfend auf religiöse Humanist*innen. Wir sollten das lassen. Erasmus' christlicher Humanismus war ein Vorläufer des modernen aufgeklärten und europäischen Denkens, universelle Freiheit und Gleichheit, argumentative Rationalität, intellektuelle Autonomie. Hätten die Christen auf ihn gehört, wäre Europa einiges an Kriegen und Dogmatismus erspart geblieben. Säulenheilige aber gibt es im Humanismus nicht. Wir blicken auf Menschen, nicht auf Engel. Wir sprachen schon davon.
Der Band hat eine deutliche politische Ausrichtung. Es geht um Erasmus' Haltung zu Begriffen wie Toleranz, Pazifismus, Nationalismus. In Ihrem eigenen Text beschäftigen Sie sich hingegen mit "Schüchternheit". Stellt diese Eigenschaft in einer Zeit, in der Wahrgenommenwerden fast alles ist, etwas anderes als ein Handicap dar?
Typen wie Trump, Erdoğan, Putin oder eben auch Höcke wird man mit Schüchternheit nicht beikommen. Ebenso wenig werden Schüchterne allein die Gleichbehandlung von Religion und Weltanschauung in Deutschland durchsetzen. Der Aufsatz diskutiert kein Entweder-oder. Er fragt nach den vergessenen Potentialen der Schüchternheit auch für den Humanismus. Im Übrigen: Auch die Handicaps sollte man nicht vorschnell geringschätzen, in der Politik geschieht Entscheidendes ohne wahrgenommen zu werden, und Newton, Darwin und Moses haben es auch als Stotterer zu was gebracht. In jedem Fall passt der zurückhaltende Erasmus nicht zu völkischer Breitbeinigkeit und populistischer Großmäuligkeit.
Dann passt Erasmus zumindest in diesem Punkt überhaupt nicht zur AfD. Kann sie sich ansonsten auf ihn berufen? Wie lautet hier das Fazit nach der Lektüre der Aufsätze?
Die Beiträge des Bandes zeigen, warum Erasmus denkbar ungeeignet ist für ideologische Vereinnahmungen durch völkischen Nationalismus und Rechtspopulismus. Sie lenken die Aufmerksamkeit aber vor allem auch weg von einem politischen Spektrum, das diese bewusst provoziert und schon zu viel davon bekommt, und hin zu Erasmus von Rotterdam, weil sich dort eher Anregungen zur Bearbeitung uns bedrängender Zukunftsfragen finden.
1 Kommentar
Kommentare
Manfred Schleyer am Permanenter Link
Und in seinem Buch "Lob der Torheit" zieht Erasmus in der zweiten Hälfte sogar ganz gewaltig über die vielerlei Hirten der Kirche her ...