Webtalk der Friedrich-Naumann-Stiftung

Frauenrechte in der Türkei massiv bedroht

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Protest gegen den Ausstieg der Türkei aus der Istanbul-Konvention, die Frauen vor Gewalt schützen soll (2020)
Protest gegen den Ausstieg der Türkei aus der Istanbul-Konvention

Vergangene Woche lud die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung Dr. Lale Akgün und Fatma Keser zum Web-Gespräch über die Zukunft der Frauenrechte in der Türkei ein. Dabei zeichneten die beiden Gäste ein düsteres Bild, in dem zahlreiche Rechte und auch die Gleichbehandlung in vielen Bereichen nach der Wiederwahl Recep Tayyip Erdoğans zu kippen drohen. Wenn Identitätspolitik wichtiger wird als Menschenrechte, geht es nicht nur um Kopftücher, sondern auch das Mindestalter für die Ehe, um Scheidungen und Femizide.

In Kooperation mit dem Verein Frauen für Freiheit und der ebenfalls FDP-nahen  Thomas-Dehler-Stiftung lud die Friedrich-Naumann-Stiftung am Abend des 14. Juni zum Webtalk "Frauenrechte im Fokus: Türkei". Nach einer Begrüßung durch Dr. Constantin Groth von beiden Stiftungen – Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und Thomas-Dehler-Stiftung – übernahm Rebecca Schönenbach von Frauen für Freiheit die Moderation des Webtalks und zeigte gemeinsam mit ihren Gästen auf, was die neue Parlamentszusammensetzung und der Machterhalt eines Mannes, der seit Jahren Frauenrechte abbaut, bedeutet. Als Gäste sprachen die Psychotherapeutin, Autorin und Politikerin Dr. Lale Akgün und die kurdische Autorin und Mitbegründerin der Initiative Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung, Fatma Keser.

Die erste Frage, die Schönenbach Akgün und Keser stellte, bezog sich auf die Entwicklung der Frauenrechte in der Türkei und umfasste die Frauenbewegung von 1860 bis heute. Dabei kam die lila Nadel, eine dicke Stopfnadel, welche Frauen am Kragen trugen und tragen, um sich gegen Übergriffe wehren zu können, ebenso zur Sprache wie die Frauenverbände. Aktuell sind es über 150, die sich, obwohl sich die Situation seit dem Erstarken der Bewegung nach dem  Militärputsch von 1980 wieder erschwert hat, nicht mundtot machen lassen. Schließlich ist die Anzahl der Femizide mit etwa einem täglich und die Gewalt gegen Frauen generell sehr hoch.

Explizit zur kurdischen Frauenbewegung befragt, führte Keser durch interessante Strategien, die Frauen jenseits des staatlich verordneten Feminismus entwickelten. So wurden beispielsweise bei Kaffeekränzchen Texte besprochen und Gruppen gebildet, deren Ziel es auch war, sich dem Westen anzunähern und sich vom Islam abzugrenzen.

Mit Sorge betrachten Moderatorin und Gäste die neue Zusammensetzung des türkischen Parlaments. Bei vielen der vertretenen Politiker*innen scheint das Ziel das komplette Gegenteil der Bemühungen der Frauenbewegung zu sein. Faschistische und islamistische Parteien möchten nicht nur den Gleichheitsparagraphen aus der türkischen Verfassung verschwinden lassen. Sie unterstützen den Konservatismus und die Islamisierung durch die Erdoğan-Partei AKP.

Erst 2021 ist die Türkei aus dem als  Istanbul-Konvention bekannt gewordenen Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ausgestiegen. Dieses setzt voraus, dass Frauen und Männer gleich zu behandeln sind. Eine Gleichbehandlung, zum Beispiel im Beruf, ist jedoch von den genannten politischen Kräften nicht gewünscht. Gutgeheißen werden stattdessen die Herabsetzung des Ehealters, welches Kinderehen wieder ermöglichen würde, die Amnestie für Vergewaltiger, die ihre Opfer heiraten, eine Erleichterung der Ehescheidung für Männer und die Erschwerung für Frauen, die Beweislast für Gewalt bei den Betroffenen, Männer als Familienoberhaupt, Sorgerecht nur für Väter und die Abschaffung des Gewaltparagraphen.

Argumentiert wird bei diesen Forderungen zur Rückabwicklung von Frauenrechten mit der Rettung von Familie und Tradition. Es wird eine Verschwörungstheorie aufgefahren, nach der die Rechte von Frauen, aber auch der LBGTQIA+-Gemeinschaft, westlicher Einfluss seien und somit schädlich für den Islam und die Werte in der Türkei. Dazu befragt, ob Türk*innen diese Gedanken teilen, berichtete Akgün vom Brainwashing der AKP, die seit Jahren Opposition und Berichterstattung unterdrücke. Junge Menschen würden teilweise nichts anderes kennen. Und somit wünsche sich die Hälfte des Landes die Säkularisierung, während die andere der Scharia als Gesetzesgrundlage vertraue.

Problematisch fand die Diskutantin auch die Angstpolitik, die Menschen überzeugt, mit Hunger dafür zahlen zu wollen, die Religion behalten zu dürfen, die Fremdbestimmung zahlreicher Frauen, die zum Beispiel mittels Handyfoto dem Ehemann belegen mussten, für Erdoğan gestimmt zu haben und die Rolle von Erdoğans Gegenkandidat Kemal Kılıçdaroğlu. Nachdem sich Kılıçdaroğlu zunächst bodenständig und in Sachen Gleichberechtigung fortschrittlich zeigte, schwenkte er vor der Wahl noch einmal auf die Linie der Identitätspolitik um, konnte dort aber nicht punkten.

Zu Ende des Gesprächs kritisierten die Teilnehmerinnen auch die deutsche Außenpolitik, die ihre Fluchtdeals mit der Türkei nicht gefährden möchte und darum ihre angekündigte feministische Ausrichtung ganz vergisst. Gefordert wird eine Unterstützung der türkischen Frauenbewegung, um die Frauenrechte zu erhalten. Für die nahe Zukunft ist bei den Stiftungen ein erneuter Blick auf die Frauenrechte in der Türkei geplant.

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