Rezension des Buches "Der Skandal der Skandale" von Manfred Lütz

Die geheime Geschichte des Christentums?

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Bartholomäusnacht, "Massacre de la Saint-Barthélemy" (1572) von François Dubois (1529–1584) gemalt zwischen 1572 und 1584 (Ausschnitt)
Bartholomäusnacht

Der Autor und ehemalige Verleger Dr. Heinz-Werner Kubitza hat das letzte Buch von Manfred Lütz, "Der Skandal der Skandale. Die geheime Geschichte des Christentums" gelesen. In seiner Rezension lässt er kein gutes Haar an dem Bestseller.

Eigentlich wollte ich kein Buch von Manfred Lütz mehr lesen. Sein Gottesbuch fand ich für einen studierten Theologen so naiv historisch-unkritisch, und dabei so befremdlich katholisch, dass ich noch heute, wenn ich das Buch aus dem Regal nehme, aufpassen muss, weil ein abgestandener Katholizismus an allen Seiten herauszulaufen droht, und dann unschöne Flecke auf dem gesunden Menschenverstand hinterlassen kann.

Dieses Buch ist auf der Bestsellerliste gelandet, obwohl es eigentlich eine Mogelpackung ist. Denn vermutlich alle Beispiele und Zitate daraus stammen aus dem Buch "Toleranz und Gewalt" von Arnold Angenendt. Lütz hat dieses Buch gelesen, und war von ihm so fasziniert, dass er auf die Idee kam, es unter seinem eigenen Namen quasi erneut herauszubringen. Dabei hat er im Wesentlichen nur die Beispiele aus Angenendts Buch auf unter 300 Seiten eingedampft, und zuweilen mit einigen lockeren Lütz-Passagen versehen. Auch wenn nun "Lütz" draufsteht, stammen sicher mehr als 90 Prozent des Textes von Angenendt. Da wirkt es fast schon etwas dreist, wenn es lediglich heißt, das Buch sei "unter Mitarbeit" von Angenendt entstanden. Man kann nur hoffen, dass Lütz wenigstens so korrekt ist, nun auch 90 Prozent seines nicht unerheblichen Autorenhonorars an den eigentlichen Autor abzutreten (ich werde bei Angenendt mal nachfragen!). Denn da Lütz deutlich bekannter als Angenendt ist und auch schon vorher Bestsellerautor war, hat es auch dieses Buch mühelos in die Bestsellerlisten geschafft. Hilfreich dazu war auch noch der Titel, wo das Wort "Skandal" gleich zweimal vorkommt und von einer "geheime(n) Geschichte des Christentums" geraunt wird. Der Titel hat mit dem Inhalt des Buches reichlich wenig zu tun, und ist vermutlich nur eine Marketingidee von Herder, Gottes eigenem Verlag gewesen. Als ehemaliger Verleger habe ich für diese Strategie sogar ein gewisses Verständnis.

Das Buch selbst ist eine großangelegte Apologie der Kirche, besonders der katholischen Kirche. Denn in jüngerer Zeit sei sie zu Unrecht immer wieder in die Kritik geraten, müsse sich ständig den Vorwurf der Hexenverfolgung und die Kreuzzüge zurechnen lassen, die Inquisition, eine kulturelle Rückständigkeit, eine Benachteiligung der Frau oder eine Körper- und Sexualfeindlichkeit. Nicht zu vergessen das Versagen der Kirchen im Nationalsozialismus. Von all diesen Anklagen (und einigen mehr) will Lütz die Kirche freisprechen. Eine etwas verwegene Aufgabe, denn Lütz ist ja, wie er selbst in einem Interview gesagt hat, "kein Fachhistoriker". Er verlässt sich ganz auf seinen Gewährsmann Angenendt.

Und da liegt schon der erste grundsätzliche Fehler. Angenendt hat sich offenbar die Mühe gemacht, alles, was aus seiner Sicht die katholische Kirche entlasten könnte, Papstzitate, Konzilssätze etc. aufzulisten und zu systematisieren. Angenendt ist Professor, aber er ist auch Priester. Er hatte die klare Absicht, ein apologetisches Buch zu schreiben, das zeigen sollte, wie fortschrittlich die katholische Kirche eigentlich schon immer gewesen ist. Und auch wenn er bestimmte Skandale natürlich nicht verschweigen kann und will, war die Absicht natürlich kein "neutrales" Buch zur Kirchengeschichte zu schreiben, sondern eines, in dem die katholische Kirche möglichst positiv dargestellt wird.

Doch Lütz, ganz Adlatus, erkennt die apologetische Absicht von Angenendt offenbar nicht und hält dessen Buch für "ein gewaltiges Werk", und für "ein Standardwerk für alle, die sich kritisch mit Christentum und Kirche auseinandersetzen wollen" (S. 11).

Cover

Angenendt dürfte geschmeichelt sein, aber es dürfte sehr fraglich sein, ob Angenendt sein Buch selbst so versteht. Und es dürfte auf jeden Fall klar sein, dass sein Buch schon vor der Anlage her, als apologetisches Buch, keines ist, das sich "kritisch" mit der Kirchengeschichte auseinandersetzt. Doch Lütz sieht bei Angenendt ("der international renommierte Wissenschaftler") nur nüchterne Forschung, nur pure Wissenschaftlichkeit. Offenbar ist Lütz aber auch von der Fülle der Beispiele, die Angenendt bringt, überwältigt, wie ebenso von der Stoßrichtung angetan. Scheint Angenendt doch endlich das auszusprechen, was sich Lütz für seine Kirche schon immer erträumt hat: dass sie so etwas wie die eigentliche Speerspitze von Aufklärung und Humanität ist und war. Deshalb macht Lütz vermutlich (dies wäre im Einzelnen zu prüfen) das, was Jünger gern zu tun pflegen: In gläubiger Gefolgschaft spitzen sie die Lehre des Meisters zu, übersehen Details und Zwischentöne, und verwandeln so das Übernommene allzu leicht immer mehr in die eigene Botschaft.

In diese Falle scheint auch Lütz getappt zu sein. In falscher Wahrnehmung und Einordnung des Buches von Angenendt meint er darin so etwas wie die "Wahrheit" zu sehen (S. 15), und er meint allen Ernstes, nun endlich die "in diesem Buch geschilderte wirkliche Geschichte des Christentums" liefern zu können. (S. 278) Die Kühnheit von Lütz korrespondiert hier sicherlich mit einem gehörigen Schuss Unbedarftheit. Lütz hält das Buch von Angenendt für "Aufklärung im besten Sinne" (S. 12), weil er dessen Charakter als Rechtfertigungsschrift glatt verkennt.

So findet man denn mit Verwunderung bei Lütz immer wieder Sätze, die die Wirklichkeit glatt auf den Kopf stellen, und die fortwährend zeigen sollen, wie fortschrittlich die katholische Kirche immer schon gewesen ist. Die Beispiele sind Legion, und im Rahmen einer Rezension kann nicht auf alles eingegangen werden.

Lütz schreibt allen Ernstes: "Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde kamen erst durch den Monotheismus auf die Tagesordnung der Weltgeschichte." (S. 29) Immer wieder ist man erstaunt über die Dreistigkeit, mit der Christen heute versuchen, moderne Werte, die sie jahrhundertelang bekämpft haben, nun plötzlich als "christliche Werte" zu reklamieren. Den Monotheismus gibt es ca. seit 500 v. C. Über 1000 Jahre war das Christentum tonangebend im Abendland, doch beachtenswerte Versuche, Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde zu verwirklichen, wird man schwerlich entdecken können. Fast alle Werte, die uns heute so wichtig sind, konnten erst verwirklicht werden, nachdem die Macht des hiesigen Monotheismus, der christlichen Kirchen gebrochen war. Die christliche Religion war ein Bremsklotz auf dem Weg zu einer modernen Gesellschaft. Der Islam ist es noch heute. Religionen insgesamt scheinen ein Menschheitsproblem zu sein.

Doch Lütz macht weiter: "Toleranz ist eine christliche Erfindung". (S. 35) Juden und Muslime werden diesen Satz von Lütz sicher gerne bestätigen können. Er erinnert ein wenig an das Koranzitat, dass kein Zwang in der Religion sein soll (S. 41, "Zum Glauben ist niemand zu zwingen"). Der Monotheismus ist jedoch kaum denkbar ohne Zwang. Trotzdem meint Angenendt, dass die christliche Lehre vom dreieinigen Gott sogar als ein Hinweis auf eine Aufgeschlossenheit für die Demokratie zu werten sei. Doch darauf geht noch nicht einmal Lütz ein, vielleicht weil auch ihm dieser Gedanke zu abwegig erscheint. Und weil, wenn man weiterdenkt, dann der Polytheismus ja noch demokratiefreundlicher wäre. Und tatsächlich entstand ja die erste Demokratie im polytheistischen Umfeld, während demokratische Bestrebungen in der von Lütz so gelobten katholischen Kirche noch bis weit ins 20. Jahrhundert geradezu als widergöttlich galten.

Lütz meint: "Christentum steht für Gewaltlosigkeit". (S. 63) Das Christentum sei eine "Friedensreligion". Das sollten sich vor allem diejenigen hinter die Ohren schreiben, die Opfer der Gewaltlosigkeit und ihres Friedens geworden sind. Man wundert sich, wie platt manche Sätze von Lütz daherkommen. Die Kreuzzüge waren für Lütz keine heiligen Kriege. Lütz sieht sie als Verteidigungskriege. Papst Urban II, der zum ersten Kreuzzug aufgerufen hat, habe ein "hochherziges Unternehmen" im Sinn gehabt. "Nie konnte sich ein Kriegshetzer ernsthaft auf das Neue Testament berufen." (S. 282) Dazu eignete sich in der Tat besser das Alte Testament, das dafür auch weidlich genutzt wurde. Dazu jedoch von Lütz kein Wort.

Wie kommt Lütz zu einer solchen Sicht? Es sind vor allem zwei Konstrukte, denen er zum Opfer fällt. Das erste bezieht sich auf das Gleichnis vom Unkraut im Weizen (Mt 13). Es steht im Sondergut des Matthäus und ist vermutlich kein echtes Jesuswort, weil es eine nachösterliche Gemeindesituation voraussetzt. Seine Aussage: Man soll das Unkraut (Juden, andere Religionen, oder auch abweichende christliche Lehren) im Weizen (= christliche Religion) wachsen lassen. Schon der Vergleich anderer Religionen mit Unkraut klingt eher wenig toleranzverdächtig. Zudem findet sich im Gleichnis der Satz: "Lasst beides wachsen bis zur Ernte, und zur Zeit der Ernte werde ich den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen." (Mt 13,30) Lütz hält dieses Gleichnis in einer seiner üblichen Übertreibungen geradezu für "die Magna Charta der Toleranz" (S. 39). Es stört ihn nicht, dass es ja gerade die Vernichtung aller Andersdenkender vorsieht. Denn das Vernichten des Unkrauts – das tut ja dann sein Gott. Und Lütz begeht den Fehler zu meinen, aus dieser einen Stelle "die" grundsätzliche Haltung des Christentums gegenüber Andersgläubigen ablesen zu können. Doch das ist schlichtes Wunschdenken. Dieses Gleichnis hat längst nicht so einen großen Einfluss ausgeübt, wie dies Lütz gerne hätte. Viel eher haben sich die Kirchen ein anderes Gleichnis zu Herzen genommen, nämlich das vom königlichen Hochzeitsmahl, wo es Gäste gibt, die nicht mitfeiern wollen, und wo es heißt: "Da wurde der König zornig; er schickte sein Heer, ließ die Mörder töten und ihre Stadt in Schutt und Asche legen." (Mt 22,7). Oder am Jesuswort: "Wer da glaubt und getauft wird, der soll selig werden, wer aber nicht getauft wird, der soll verdammt werden." (Mk 16,16, mein Jesus-Lieblingszitat, leider aber auch nicht echt). Lütz macht also den Fehler, dass er von nur einem einzigen Text ausgeht, diesen falsch interpretiert, dann kirchengeschichtlich stark überbewertet, bei Nichtbeachtung anderer, ganz gegensätzlicher Stellen. Es ist ein ideologischer Ansatz: Lütz fragt nicht, wie sich das Christentum geschichtlich geäußert hat, sondern sucht sich einen Text, wie das Christentum angeblich sein soll. Und kurzschließt dann, dass es auch so gewesen ist. Das eben ist eine ideologische Sicht. Es verhält sich in etwa so, als wenn Erich Honecker im Kommunistischen Manifest irgendetwas von Freiheit und Gleichheit liest, und sich dann den Blick auf die Wirklichkeit in seiner DDR gleich spart.

Ständig kommt Lütz auf sein Unkraut-Gleichnis zu sprechen. Es hat für ihn eine zentrale Stellung. Eine weitere und ähnliche Falschinterpretation liegt bei der sog. Gottesebenbildlichkeit vor. "Und dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich." (Gen 1,26) Lütz leitet daraus nicht weniger als den Beginn der "Geschichte der Menschenrechte" ab. "Diese Gottebenbildlichkeit verlangte nämlich für jeden Menschen göttlichen Respekt, und infolgedessen eine entsprechende Ethik und Politik." (S. 178) Ist Lütz aufgefallen, dass hier noch von Göttern im Plural ("Lasst uns …") die Rede ist? Der Satz stammt also offenbar noch aus der polytheistischen Zeit Israels vor dem Exil. Er hat mit dem monotheistischen (katholischen) Gott, um den sich Lütz stets bemüht, also offenbar noch gar nichts zu tun. Die Alttestamentler haben lange gerätselt, was denn die "Gottebenbildlichkeit" eigentlich meinen soll. Die wohl plausibelste Lösung ist, dass hier einfach von der äußeren Gestalt die Rede ist. Denn man hat sich die Götter einfach menschengestaltig vorgestellt. Und wieder will Lütz an dieser einen Stelle das Eintreten der Christen für Freiheit und Gleichheit, oder wie hier die Menschenrechte festmachen. Doch so hat man in Antike und Mittelalter einfach noch nicht gedacht. Lütz denkt an dieser Stelle (es soll nicht wieder vorkommen) viel zu modern. Denn für die Christen in Antike und Mittelalter war es klar, dass die Menschen eben nicht gleich, sondern als Sklaven und Freie, Herren und Diener, und als Mann und Frau gemacht sind. Die Geschichte des Christentums spiegelt diese Ungleichheit eindeutig und tausendfach wieder. Und die gottgewollte(!) Ungleichheit findet breiten Rückhalt in der Bibel (z. B. Röm 13). Und wieder erspart sich Lütz den Blick auf die Wirklichkeit, und hält sich lieber an die Dogmatik und einzelne isolierte Bibelverse. Es ist klar: Wissenschaftlich ist das alles nicht, es ist höchst tendenziös.

Dabei arbeitet Lütz mit einer Technik, die ihm selbst fragwürdig vorkommen müsste. Angenendt hat nach Kräften Zitate gesammelt, die für einen schon immer humanen Katholizismus sprechen sollten. Das kann man natürlich tun, so wie Karlheinz Deschner Zitate gesammelt hat, die die Kriminalgeschichte des Christentums zeigen. Nur: Deschner wusste ganz genau, dass er parteilich ist und wollte dies auch bewusst sein. Lütz jedoch scheint eben der Meinung zu sein, dass er dem unwissenden Publikum mit seinem Buch "den Stand der Forschung zur Kenntnis" bringen will. Und merkt selbst nicht, wie verhalten dies sicherlich bei vielen Forschern ankommt, die natürlich erkennen, aus welcher Richtung hier geschossen wird. Lütz will Wissenschaft liefern und scheint fest davon überzeugt, das auch zu tun. Um dies zu untermauern, hat er von immerhin fünf renommierten Wissenschaftlern sein Buch "lesen lassen", wie er schreibt, "damit alles stimmt". Alle fünf führt er im Vorwort genüsslich namentlich auf. Ich bin mir jedoch nicht so sicher, ob das den Genannten nicht eher peinlich ist. Denn immer mehr verrennt sich Lütz in den Schlammgruben katholischer Apologetik. Selbst unter Katholiken dürfte er da nicht eben viele echte Gewährsleute finden. Denn schon die Art und Weise der Argumentation von Lütz muss abschrecken.

Denn wie geht Lütz vor. Es zeigt sich häufig das gleiche Muster. In 2000 Jahren Kirchengeschichte haben sich natürlich allerhand Äußerungen vieler Theologen und Kirchenleute angesammelt. Lütz zitiert nur vermeintlich fortschrittliche Sätze, auch von solchen Leuten, die selbst unter Theologen kaum einer kennt, wie z. B. Regino von Prüm (840–915), der sich gegen den Hexenglauben ausgesprochen hat. Oder Rudolphus Niger (1146–1200), der sogar ein ganzes Traktat gegen die Kreuzzüge geschrieben haben soll. Positive Zitate lassen sich aber immer irgendwie finden, selbst in der schlimmsten Schrift. Diesen positiven katholischen Stimmen stellt Lütz dann genüsslich negative Zitate von Aufklärern wie Hobbes, Bodin, Kant, Voltaire, Fichte, Hegel gegenüber (z. B. zu "Negern"), die sich auch häufig finden lassen. Dieses Vorgehen selbst ist höchst unseriös, geschichtsverzerrend und natürlich alles andere als wissenschaftlich. Lütz will aber offenbar damit sagen: Seht her, wie fortschrittlich die Kirche immer schon war, und wie rückständig die sog. Aufklärer gewesen sind. Das stellt nun wirklich die Geschichte auf den Kopf und liest sich ganz unerträglich. Vermutlich besonders für die fünf genannten Gewährsleute von Lütz, die ja alle, anders als er, gestandene Wissenschaftler sind. Sie werden hier vor den katholischen Karren gespannt und wissen nicht, wie ihnen geschieht.

Es geht Lütz ja auch nicht nur um eine Rettung der Kirche allgemein: Lütz ist vor allem an der katholischen Kirche interessiert. Sie versucht er in Schutz zu nehmen, wo er nur kann. Und so bekommen die Protestanten, wo immer das möglich ist, kräftig einen Seitenhieb mit. Wie Lütz die Aufklärer gegen die Kirchen ausspielt, so spielt er die Protestanten gegen die katholische Kirche aus. Die Lutheraner erscheinen als Verirrung, sie kennen kein Naturrecht, haben den Frauen die Freiheit geraubt, Nonne werden zu dürfen (sic!), Luther habe die Chance zur Einigung verspielt etc. etc. Es gibt für Lütz nur die eine heilige katholische Kirche, nur das Original, alles andere wird verunglimpft. Im Übrigen ist das schlechte Image, das die katholische Kirche hat, zu einem guten Teil nach Lütz auf die stärkere Medienpräsenz der Protestanten zurückzuführen. Dabei habe der Katholizismus die bismarcksche Sozialgesetzgebung gespeist, während die Protestanten in der Arbeiterfrage versagt haben. Da ist was Wahres dran. Die Unfehlbarkeit des Papstes, die auch namhafte Katholiken ablehnten und ablehnen, verkauft er jedoch "eher als Unfehlbarkeitsverbot, es begrenzt Rechthaberei, verhindert Selbstüberschätzung und Sektenbildung. Im Grunde könnte man es liberal nennen." (S. 201) Na wunderbar, jetzt hat er das Liberale sogar noch im Dogma der Unfehlbarkeit untergebracht. Herr Lütz wird doch kein verkappter Jesuit sein?

Schwer zu ertragen ist es auch, wenn er die Schuld an Verbrechen nach Möglichkeit von der Kirche wegschieben will. So wird für Todesurteile, wo immer das möglich ist, der weltliche Arm verantwortlich gemacht. Und tatsächlich wollte sich die Kirche die Hände nicht selbst schmutzig machen. Lütz flüchtet sich in formaljuristische Spitzfindigkeiten, denn natürlich hat hinter jedem Todesurteil aus religiösen Gründen eben die Religion, eben das Christentum gestanden. Als hätte der weltliche Arm irgendwie unabhängig von der Kirche agiert. Lütz schiebt die Schuld von der Kirche weg. Es waren die Städte, die mehr Menschen umgebracht haben als die Inquisition. Es war Karl V., der 1521 eine erste Protestantenverfolgung in Gang setzte, es war König Sigismund, der Jan Hus verbrennen ließ. Hexenverfolgungen waren kirchlicherseits nicht gewollt, sie seien Ausdruck noch des germanischen Aberglaubens gewesen. Obwohl doch schon im Alten Testament zu lesen ist: "Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen". (Ex 22,17) Lütz verschweigt diesen Vers. Nur ein "windiger deutscher Dominikaner" (S. 153) habe den Hexenhammer geschrieben und Papst Innozenz VIII. seine Hexenbulle verfassen lassen. Nein, Herr Lütz, so darf man das nicht machen. Die toten Frauen und Männer, die der Hexenwahn gekostet hat, die wird man ehrlicherweise schon dem Christentum und den christlichen Kirchen zurechnen müssen. Ob es sich nun um katholischen oder lutherischen Aberglauben handelt, ob mit päpstlicher Billigung oder nicht, interessiert die Opfer nicht.

Wo es aber wirklich unappetitlich wird, sind die verniedlichenden Worte, die Lütz für die Folter findet, sofern sie z. B. von der römischen Inquisition, im Unterschied zur spanischen, geübt wird. 1252 wurde die Folter von Papst Innozenz IV. bei Ketzerprozessen ausdrücklich zugelassen, aber wie Lütz sich bemüht nachzuschieben, "mit gewissen Einschränkungen: Folter nur einmal und mit Einhalt vor Verstümmelung und Todesfolge und keine Durchführung durch Kleriker." (S. 105) Anders war es in Spanien, wo die Päpste aber immer wieder Anstalten machten, "mildernd einzugreifen, aber sie waren in Spanien machtlos." (S. 128) Allerdings, so zitiert Lütz einen Forscher, war der Grad der Tortur "unterhalb des sonst üblichen." (S. 129) Das beruhigt dann doch. Bei der römischen Inquisition klingt die Folter bei Lütz gar wie ein Wellnesspaket: "Tortur nie als erste, sondern als letzte Maßnahme und nicht länger als eine halbe Stunde, was auf eine milde Anwendung hindeuten dürfte." (S. 132) Man fragt sich bei solchen Sätzen schon, ob Lütz, der ja auch ein angesehener Therapeut ist, eigentlich merkt, was er da schreibt. Gut, dass die Opfer religiöser Gewalt, die durch Folter und Kirche zu Tode gekommen sind, Lütz nicht mehr lesen müssen.

Das ist halt ein entscheidender Unterschied zwischen Lütz und Deschner. Deschner stellt sich auf die Seite der Opfer, ergreift für sie Partei, bringt ihr Leiden zur Sprache, ja leidet fast mit. Doch Lütz steht auf der Seite der Täter, versucht die Schuld vor allem seiner Kirche kleinzureden oder auf andere abzuschieben, und zeigt zuweilen eine erstaunlich geringe Empathiefähigkeit. Ein früherer Rezensent hat das Vorgehen von Lütz deutlich beschrieben: "Wo er beschönigen kann, beschönigt er, wo er weglassen kann, lässt er weg, wo er falsch zusammenfassen kann, fasst er falsch zusammen, wo er die Schuld dem Staat, dem Kaiser oder König in die Schuhe schieben kann, schiebt er ab – ihm ist keine noch so dünne Argumentation zu schade, keine noch so leicht zu durchschauende rhetorische Taktik zu billig."

Auch bei andern Themen will sich einem der Magen umdrehen. So verurteilt er natürlich den Kindesmissbrauch (aber eher selten unter Priestern zu finden). Er sei ein "perfides Verbrechen". Dem kann man zustimmen. Doch warum ist das nach Lütz so? Es ist nicht das Verbrechen an sich, sondern weil die Opfer "mitunter lebenslang auch ihr Vertrauen in Gott verlieren." (S. 273) Das ist für den Katholiken Lütz das eigentlich Tragische. Papst Benedikt sei, so Lütz, schon als Kardinal "entschieden gegen Missbrauch vorgegangen". Doch Zweifel sind angebracht, denn war es nicht der spätere deutsche Papst, der Verfahren gegen pädophile Priester jahrelang verschleppt hat? Lütz hat davon offenbar noch nichts gehört. Dafür macht Lütz aber eine neue Opfergruppe aus, nämlich "die unschuldig Beschuldigten." (S. 275) Aber all das hat natürlich nicht mit dem Zölibat zu tun. Das Zölibat sei kein Zwangszölibat. Lütz bringt auch noch den höchst kuriosen Gedanken: "Die durchweg negative Beschreibung der zölibatären Lebensform in der Öffentlichkeit … diskriminiert oft ungewollt die inzwischen massenhaft unfreiwillig 'zölibatär' lebenden Singles." (S. 259 f.) Klar stellt er in einem Rundumschlag fest: "Sexualität außerhalb der Ehe widerspricht aus katholischer ganzheitlich-ökologischer (?) Sicht der Schöpfungsordnung, das betrifft alle heterosexuellen Unverheirateten, alle Standesamtlich Wiederverheirateten und gleichermaßen auch alle Homosexuellen." (S. 266) Für die Erbsünde meint er Kant (!) als Gewährsmann heranziehen zu können, für das Pillenverbot beruft er sich sogar auf Alice Schwarzer. Und dass Frauen keine Priester werden können, ist doch klar: "Niemand fordert, dass der Hamlet im säkularen Theater unbedingt auch von Frauen gespielt werden muss." (S. 256)

Wer Manfred Lütz mal live erlebt hat, der weiß, dass er seine Vorträge gerne mit kabarettistischen Passagen würzt, die wirklich gut und originell sind, und die an den verstorbenen Kabarettisten Hans-Dieter Hüsch erinnern. Da kann er ganz rheinische Frohnatur sein, wo man gerne hingeht (und ich rate zu). Das wirklich Merkwürdige ist jedoch, dass sich dieses an sich freundliche Wesen mit einer Form des Katholizismus verbindet, die mehr als abschreckend ist. Sobald er sich theologisch äußert, wird er zu einem erzkonservativen katholischen Hardliner, von dem sich selbst meine katholischen Freunde lieber distanzieren. Dann rechtfertigt er sogar Haltungen des katholischen Lehramts, die von vielen katholischen Priestern selbst kaum noch so ernst genommen werden.

Soweit ich sehe, bedienen alle seine Positionen einen sturen, und so (zumindest in gebildeten Kreisen) kaum noch vorfindbaren Katholizismus. Was immer man sich unter verknöcherten katholischen Positionen vorstellt; Lütz scheint sie alle zu verkörpern. Das kann eigentlich kaum sein. Doch er rechtfertigt sogar die Unfehlbarkeit und erlaubt sich nicht die leiseste Kritik an der unfehlbar 1950 verkündeten Aufnahme Mariens in den Himmel. Eine köstliche und absurde Spitze des katholischen Aberglaubens. Warum tut er das? Meine Vermutung: Er will es sich mit dem Himmelreich nicht verscherzen, denn ein Widerspruch gegen dieses als unfehlbar verkündete Dogma wäre ja eine Todsünde. Während säkulare Menschen mehr oder weniger in Frieden sterben können, wie das von der Natur auch seine Richtigkeit hat, bilden Christen, und besonders die Hardliner unter ihnen, sich ja ein, es gebe einen Teufel und ein Gericht, und wenn sie nicht brav sind, also z. B. der Kirche in so einer wichtigen Sache wie der Aufnahme der Gottesmutter in den Himmel widersprechen, riskieren sie die Hölle. Für Außenstehende mag dies naiv klingen, doch die Angst vor Gericht und Hölle war über zwei Jahrtausende für Millionen von Gläubigen real. Das Schüren dieser Angst ist das eigentliche Verbrechen der Kirche gewesen, und ist es noch heute. Als gläubiger Katholik, und so stur, wie er glaubt, dürfte Lütz nicht frei von Jenseitsängsten sein. Wollen wir also hoffen, dass im Himmel nicht auch noch arabisch gesprochen wird, denn sonst geht der Katholizismus nach Hinten los.

Vieles wäre noch zu sagen zum Skandalbuch von Lütz. Doch ohnehin ist diese Rezension schon viel zu lang geraten. Lassen wir zum Schluss den Autor noch einmal selbst zu Wort kommen. Denn ohne, dass er sich dessen bewusst war, hat er selbst in einigen Sätzen seine Position treffend formuliert. Warum ist ein so kluger Mensch wie Lütz gleichzeitig so verbiestert religiös? Nun, weil Religion "etwas Intimes" ist, wie Lütz schreibt. "Nur so ist zu erklären, dass mitunter höchst rationale Menschen höchst irrationale Weltanschauungen haben und jede Operation daran mit dem Skalpell der Vernunft strikt verweigern." (S. 277) Lütz meint zwar, er habe ein Aufklärungsbuch geschrieben, doch hat es leider nur zu Apologetik gereicht. Doch was soll's? "Mit falschen Überzeugungen kann man gut leben" (S. 9) und "Verdrängung (ist) eine wichtige Fähigkeit, um lebenstüchtig zu bleiben." (S. 9) Viele Gläubige, auch die meisten Katholiken in unserem Land, leben ja inzwischen einen viel freieren Glauben, haben sich losgesagt von der ungnädigen und rechthaberischen Kirche früherer Zeiten. Die Forschung hat ja inzwischen auch Einiges, was lange Zeit als unumstößliches Glaubensgut gegolten hat, als frommes Wunschdenken der ersten Christen und einer darauf aufbauenden Dogmatik erwiesen. Doch "wie beim Kommunismus gibt es … immer einige, die die Signale nicht hören und betriebsblind nostalgisch unentwegt so weitermachen, als sei nichts geschehen." (S. 11) Da hat Lütz eine treffende Selbstbeschreibung geliefert. Er hält, ein tapferer Soldat, immer noch die alte Fahne des traditionellen Katholizismus hoch, auch wenn das selbst bei seinen Glaubensbrüdern oftmals nurmehr als peinlich empfunden wird. Er selbst schreibt, dass "in intellektuellen Debatten … ein christliches Bekenntnis gewöhnlich unausgesprochen als indiskutabel" (S. 9 f.) gilt. Nun, das muss nicht zwingend so sein; ein rückständiger Katholizismus hat dieses Schicksal aber sicherlich verdient.


Siehe dazu auch: