Rezension des Buches "Der Skandal der Skandale" von Manfred Lütz

Die geheime Geschichte des Christentums?

Der Autor und ehemalige Verleger Dr. Heinz-Werner Kubitza hat das letzte Buch von Manfred Lütz, "Der Skandal der Skandale. Die geheime Geschichte des Christentums" gelesen. In seiner Rezension lässt er kein gutes Haar an dem Bestseller.

Eigentlich wollte ich kein Buch von Manfred Lütz mehr lesen. Sein Gottesbuch fand ich für einen studierten Theologen so naiv historisch-unkritisch, und dabei so befremdlich katholisch, dass ich noch heute, wenn ich das Buch aus dem Regal nehme, aufpassen muss, weil ein abgestandener Katholizismus an allen Seiten herauszulaufen droht, und dann unschöne Flecke auf dem gesunden Menschenverstand hinterlassen kann.

Dieses Buch ist auf der Bestsellerliste gelandet, obwohl es eigentlich eine Mogelpackung ist. Denn vermutlich alle Beispiele und Zitate daraus stammen aus dem Buch "Toleranz und Gewalt" von Arnold Angenendt. Lütz hat dieses Buch gelesen, und war von ihm so fasziniert, dass er auf die Idee kam, es unter seinem eigenen Namen quasi erneut herauszubringen. Dabei hat er im Wesentlichen nur die Beispiele aus Angenendts Buch auf unter 300 Seiten eingedampft, und zuweilen mit einigen lockeren Lütz-Passagen versehen. Auch wenn nun "Lütz" draufsteht, stammen sicher mehr als 90 Prozent des Textes von Angenendt. Da wirkt es fast schon etwas dreist, wenn es lediglich heißt, das Buch sei "unter Mitarbeit" von Angenendt entstanden. Man kann nur hoffen, dass Lütz wenigstens so korrekt ist, nun auch 90 Prozent seines nicht unerheblichen Autorenhonorars an den eigentlichen Autor abzutreten (ich werde bei Angenendt mal nachfragen!). Denn da Lütz deutlich bekannter als Angenendt ist und auch schon vorher Bestsellerautor war, hat es auch dieses Buch mühelos in die Bestsellerlisten geschafft. Hilfreich dazu war auch noch der Titel, wo das Wort "Skandal" gleich zweimal vorkommt und von einer "geheime(n) Geschichte des Christentums" geraunt wird. Der Titel hat mit dem Inhalt des Buches reichlich wenig zu tun, und ist vermutlich nur eine Marketingidee von Herder, Gottes eigenem Verlag gewesen. Als ehemaliger Verleger habe ich für diese Strategie sogar ein gewisses Verständnis.

Das Buch selbst ist eine großangelegte Apologie der Kirche, besonders der katholischen Kirche. Denn in jüngerer Zeit sei sie zu Unrecht immer wieder in die Kritik geraten, müsse sich ständig den Vorwurf der Hexenverfolgung und die Kreuzzüge zurechnen lassen, die Inquisition, eine kulturelle Rückständigkeit, eine Benachteiligung der Frau oder eine Körper- und Sexualfeindlichkeit. Nicht zu vergessen das Versagen der Kirchen im Nationalsozialismus. Von all diesen Anklagen (und einigen mehr) will Lütz die Kirche freisprechen. Eine etwas verwegene Aufgabe, denn Lütz ist ja, wie er selbst in einem Interview gesagt hat, "kein Fachhistoriker". Er verlässt sich ganz auf seinen Gewährsmann Angenendt.

Und da liegt schon der erste grundsätzliche Fehler. Angenendt hat sich offenbar die Mühe gemacht, alles, was aus seiner Sicht die katholische Kirche entlasten könnte, Papstzitate, Konzilssätze etc. aufzulisten und zu systematisieren. Angenendt ist Professor, aber er ist auch Priester. Er hatte die klare Absicht, ein apologetisches Buch zu schreiben, das zeigen sollte, wie fortschrittlich die katholische Kirche eigentlich schon immer gewesen ist. Und auch wenn er bestimmte Skandale natürlich nicht verschweigen kann und will, war die Absicht natürlich kein "neutrales" Buch zur Kirchengeschichte zu schreiben, sondern eines, in dem die katholische Kirche möglichst positiv dargestellt wird.

Doch Lütz, ganz Adlatus, erkennt die apologetische Absicht von Angenendt offenbar nicht und hält dessen Buch für "ein gewaltiges Werk", und für "ein Standardwerk für alle, die sich kritisch mit Christentum und Kirche auseinandersetzen wollen" (S. 11).

Cover

Angenendt dürfte geschmeichelt sein, aber es dürfte sehr fraglich sein, ob Angenendt sein Buch selbst so versteht. Und es dürfte auf jeden Fall klar sein, dass sein Buch schon vor der Anlage her, als apologetisches Buch, keines ist, das sich "kritisch" mit der Kirchengeschichte auseinandersetzt. Doch Lütz sieht bei Angenendt ("der international renommierte Wissenschaftler") nur nüchterne Forschung, nur pure Wissenschaftlichkeit. Offenbar ist Lütz aber auch von der Fülle der Beispiele, die Angenendt bringt, überwältigt, wie ebenso von der Stoßrichtung angetan. Scheint Angenendt doch endlich das auszusprechen, was sich Lütz für seine Kirche schon immer erträumt hat: dass sie so etwas wie die eigentliche Speerspitze von Aufklärung und Humanität ist und war. Deshalb macht Lütz vermutlich (dies wäre im Einzelnen zu prüfen) das, was Jünger gern zu tun pflegen: In gläubiger Gefolgschaft spitzen sie die Lehre des Meisters zu, übersehen Details und Zwischentöne, und verwandeln so das Übernommene allzu leicht immer mehr in die eigene Botschaft.

In diese Falle scheint auch Lütz getappt zu sein. In falscher Wahrnehmung und Einordnung des Buches von Angenendt meint er darin so etwas wie die "Wahrheit" zu sehen (S. 15), und er meint allen Ernstes, nun endlich die "in diesem Buch geschilderte wirkliche Geschichte des Christentums" liefern zu können. (S. 278) Die Kühnheit von Lütz korrespondiert hier sicherlich mit einem gehörigen Schuss Unbedarftheit. Lütz hält das Buch von Angenendt für "Aufklärung im besten Sinne" (S. 12), weil er dessen Charakter als Rechtfertigungsschrift glatt verkennt.

So findet man denn mit Verwunderung bei Lütz immer wieder Sätze, die die Wirklichkeit glatt auf den Kopf stellen, und die fortwährend zeigen sollen, wie fortschrittlich die katholische Kirche immer schon gewesen ist. Die Beispiele sind Legion, und im Rahmen einer Rezension kann nicht auf alles eingegangen werden.

Lütz schreibt allen Ernstes: "Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde kamen erst durch den Monotheismus auf die Tagesordnung der Weltgeschichte." (S. 29) Immer wieder ist man erstaunt über die Dreistigkeit, mit der Christen heute versuchen, moderne Werte, die sie jahrhundertelang bekämpft haben, nun plötzlich als "christliche Werte" zu reklamieren. Den Monotheismus gibt es ca. seit 500 v. C. Über 1000 Jahre war das Christentum tonangebend im Abendland, doch beachtenswerte Versuche, Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde zu verwirklichen, wird man schwerlich entdecken können. Fast alle Werte, die uns heute so wichtig sind, konnten erst verwirklicht werden, nachdem die Macht des hiesigen Monotheismus, der christlichen Kirchen gebrochen war. Die christliche Religion war ein Bremsklotz auf dem Weg zu einer modernen Gesellschaft. Der Islam ist es noch heute. Religionen insgesamt scheinen ein Menschheitsproblem zu sein.

Doch Lütz macht weiter: "Toleranz ist eine christliche Erfindung". (S. 35) Juden und Muslime werden diesen Satz von Lütz sicher gerne bestätigen können. Er erinnert ein wenig an das Koranzitat, dass kein Zwang in der Religion sein soll (S. 41, "Zum Glauben ist niemand zu zwingen"). Der Monotheismus ist jedoch kaum denkbar ohne Zwang. Trotzdem meint Angenendt, dass die christliche Lehre vom dreieinigen Gott sogar als ein Hinweis auf eine Aufgeschlossenheit für die Demokratie zu werten sei. Doch darauf geht noch nicht einmal Lütz ein, vielleicht weil auch ihm dieser Gedanke zu abwegig erscheint. Und weil, wenn man weiterdenkt, dann der Polytheismus ja noch demokratiefreundlicher wäre. Und tatsächlich entstand ja die erste Demokratie im polytheistischen Umfeld, während demokratische Bestrebungen in der von Lütz so gelobten katholischen Kirche noch bis weit ins 20. Jahrhundert geradezu als widergöttlich galten.

Lütz meint: "Christentum steht für Gewaltlosigkeit". (S. 63) Das Christentum sei eine "Friedensreligion". Das sollten sich vor allem diejenigen hinter die Ohren schreiben, die Opfer der Gewaltlosigkeit und ihres Friedens geworden sind. Man wundert sich, wie platt manche Sätze von Lütz daherkommen. Die Kreuzzüge waren für Lütz keine heiligen Kriege. Lütz sieht sie als Verteidigungskriege. Papst Urban II, der zum ersten Kreuzzug aufgerufen hat, habe ein "hochherziges Unternehmen" im Sinn gehabt. "Nie konnte sich ein Kriegshetzer ernsthaft auf das Neue Testament berufen." (S. 282) Dazu eignete sich in der Tat besser das Alte Testament, das dafür auch weidlich genutzt wurde. Dazu jedoch von Lütz kein Wort.

Wie kommt Lütz zu einer solchen Sicht? Es sind vor allem zwei Konstrukte, denen er zum Opfer fällt. Das erste bezieht sich auf das Gleichnis vom Unkraut im Weizen (Mt 13). Es steht im Sondergut des Matthäus und ist vermutlich kein echtes Jesuswort, weil es eine nachösterliche Gemeindesituation voraussetzt. Seine Aussage: Man soll das Unkraut (Juden, andere Religionen, oder auch abweichende christliche Lehren) im Weizen (= christliche Religion) wachsen lassen. Schon der Vergleich anderer Religionen mit Unkraut klingt eher wenig toleranzverdächtig. Zudem findet sich im Gleichnis der Satz: "Lasst beides wachsen bis zur Ernte, und zur Zeit der Ernte werde ich den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, um es zu verbrennen." (Mt 13,30) Lütz hält dieses Gleichnis in einer seiner üblichen Übertreibungen geradezu für "die Magna Charta der Toleranz" (S. 39). Es stört ihn nicht, dass es ja gerade die Vernichtung aller Andersdenkender vorsieht. Denn das Vernichten des Unkrauts – das tut ja dann sein Gott. Und Lütz begeht den Fehler zu meinen, aus dieser einen Stelle "die" grundsätzliche Haltung des Christentums gegenüber Andersgläubigen ablesen zu können. Doch das ist schlichtes Wunschdenken. Dieses Gleichnis hat längst nicht so einen großen Einfluss ausgeübt, wie dies Lütz gerne hätte. Viel eher haben sich die Kirchen ein anderes Gleichnis zu Herzen genommen, nämlich das vom königlichen Hochzeitsmahl, wo es Gäste gibt, die nicht mitfeiern wollen, und wo es heißt: "Da wurde der König zornig; er schickte sein Heer, ließ die Mörder töten und ihre Stadt in Schutt und Asche legen." (Mt 22,7). Oder am Jesuswort: "Wer da glaubt und getauft wird, der soll selig werden, wer aber nicht getauft wird, der soll verdammt werden." (Mk 16,16, mein Jesus-Lieblingszitat, leider aber auch nicht echt). Lütz macht also den Fehler, dass er von nur einem einzigen Text ausgeht, diesen falsch interpretiert, dann kirchengeschichtlich stark überbewertet, bei Nichtbeachtung anderer, ganz gegensätzlicher Stellen. Es ist ein ideologischer Ansatz: Lütz fragt nicht, wie sich das Christentum geschichtlich geäußert hat, sondern sucht sich einen Text, wie das Christentum angeblich sein soll. Und kurzschließt dann, dass es auch so gewesen ist. Das eben ist eine ideologische Sicht. Es verhält sich in etwa so, als wenn Erich Honecker im Kommunistischen Manifest irgendetwas von Freiheit und Gleichheit liest, und sich dann den Blick auf die Wirklichkeit in seiner DDR gleich spart.