Interview

"Die Grenzen des Machbaren haben sich nach rechts verschoben"

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Rechte Parolen, die viele noch vor zwanzig Jahren erschreckt hätten, gehören inzwischen in Deutschland zur Normalität. Das zeigt sich auch in den Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager, die zunehmend mit geschichtsrevisionistischen Provokationen zu kämpfen haben. Ein Interview mit Jens-Christian Wagner, Geschäftsführer der "Stiftung niedersächsische Gedenkstätten" und Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen.

hpd: Herr Wagner, Sie haben vor einigen Wochen öffentlich gemacht, dass es in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen inzwischen immer häufiger zu rechten Provokationen kommt.

Wagner: Nicht nur in Bergen-Belsen, sondern in vielen anderen Gedenkstätten, wie ich von Kollegen weiß. Wir machen die Erfahrung, dass seit zwei, drei, vier Jahren Besucherinnen und Besucher zunehmend mit Provokationen in den Gedenkstätten auftreten, und zwar geschichtspolitischen, geschichtsrevisionistischen Provokationen. Es werden sogenannte Signalfragen gestellt. Das sind Fragen, die das Ziel haben, jemanden, der eine Führung macht, gewissermaßen aufs Glatteis zu führen und in eine Diskussion zu verwickeln, deren Ziel nicht wirklich ein argumentativer Austausch ist. Deren Ziel ist es, die Betreuung der jeweiligen Besuchergruppe letzten Endes zu verhindern, indem Geschichtslegenden erzählt werden. Legenden, die den Holocaust in den seltensten Fällen leugnen – so weit geht es tatsächlich nicht, weil es dann ja auch sofort strafbar wäre – die aber immer kurz davor stehen bleiben.

Was genau sind das für Dinge, die da erzählt werden?

Das sind Legenden, die die NS-Verbrechen verharmlosen, verniedlichen, bagatellisieren oder auch relativieren, indem Vergleiche gezogen werden mit anderen in der Geschichte begangenen Verbrechen, zum Teil in ganz anderen Erdteilen. Ein Beispiel sind die sogenannten Rheinwiesenlager, die immer wieder genannt werden von Besuchern. Im Internet sieht man das in entsprechenden Kommentaren auch immer wieder. Die Rheinwiesenlager waren Lager, die die Amerikaner im Frühjahr 1945 entlang des Rheins improvisiert eingerichtet haben, um die große Zahl von deutschen Kriegsgefangenen unterzubringen, die kurz vor und nach der Kapitulation in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten waren. In diesen Lagern sind tatsächlich einige tausend deutsche Kriegsgefangene ums Leben gekommen, weil dort schlechte sanitäre und hygienische Bedingungen herrschten. Und es gibt eine kleine, aber zunehmend lauter werdende und auch zunehmend aggressiver werdende Minderheit unter unseren Besucherinnen und Besuchern, die versuchen, das, was in Bergen-Belsen oder auch in anderen nationalsozialistischen Konzentrationslagern an Verbrechen begangen wurde, gewissermaßen gleichzusetzen, zum Beispiel mit den Rheinwiesenlagern. Ein anderes Beispiel ist sozusagen der Klassiker aus Bergen-Belsen: Die hohen Todeszahlen in Bergen-Belsen Anfang 1945 werden nicht geleugnet – allerdings lassen sie sich auch nur schwer leugnen angesichts der Fotos, die die Briten bei der Befreiung gemacht haben von 10.000 Leichen, die im Lager herumliegen. Es wird aber behauptet, dass diese hohen Todeszahlen nicht etwa Ergebnis der gezielten Unterversorgung seien, sondern eine Folge der alliierten Luftangriffe auf die Verkehrswege, die es verunmöglicht hätten, das Lager und seine Insassen noch angemessen zu versorgen. Deswegen seien letzten Endes die Alliierten schuld am Massensterben in Bergen-Belsen. Und das ist eine Form von Schuldabwehr und Schuldumkehr, die wir aus den ersten Nachkriegsjahrzehnten sehr, sehr gut kennen. Die Argumente, die vorgebracht werden, die nicht wirklich Argumente, sondern Behauptungen sind, die sind überhaupt nicht neu, sondern sind aufgewärmte Mythen aus der Nachkriegszeit, die jetzt aber wieder zunehmend fruchtbaren Boden finden.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass sie diesen fruchtbaren Boden finden?

Ich glaube, das hat im Wesentlichen drei Gründe. Ein Grund ist generationeller Natur. Die Zeitgenossenschaft gibt es quasi nicht mehr, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen. Und damit ist sozusagen die unmittelbare Empathie, die unmittelbare Trauer um diejenigen, die im Nationalsozialismus ermordet wurden, so nicht mehr vorhanden. Ein zweiter Grund ist sicherlich die Zunahme der Information oder besser Desinformation in modernen Medien, die Echokammern und Filterblasen im Netz, die dazu führen, dass jemand, der zunächst vielleicht sogar mit dem Bedürfnis, sich zu informieren, im Internet nach Informationen zu Bergen-Belsen sucht, dann auf irgendeiner Geschichtsrevisionismus-Seite landet und sich diesen Müll durchliest und ihn am Ende für bare Münze hält. Eine noch schlimmere Wirkung haben die sozialen Medien, wo jeder in seiner Blase lebt und sich bereits vorhandene Einstellungen dann sukzessive radikalisieren. Das hat sicherlich eine nicht zu unterschätzende Wirkung, auch auf unsere Besucher. Und der dritte Grund ist ein allgemein geschichtspolitischer. Wir erleben es seit einigen Jahren, dass aus den Reihen einer Partei, die mittlerweile in so gut wie jedem Parlament in Deutschland vertreten ist, nämlich der AfD, ein Geschichtsrevisionismus-Vorstoß, eine Geschichtsrevisionismus-Provokation nach der anderen in die Öffentlichkeit getragen wird. Denken Sie an die Rede von Björn Höcke vor drei Jahren mittlerweile, in der er fordert, wir bräuchten eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad in Deutschland. Alexander Gaulands Behauptung, die zwölf Jahre Nazi-Terror seien ein Fliegenschiss in der deutschen Geschichte gewesen. Seine Forderung, man solle die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges wieder mehr ehren, insbesondere ihre großartigen militärischen Leistungen. Und diese Liste ließe sich quasi endlos fortsetzen. Und wenn man das betrachtet, dann kann man deutlich feststellen, dass sich allgemein mit jedem dieser Vorstöße die Grenzen des Machbaren in Deutschland immer weiter ein kleines Stückchen nach rechts verschoben haben. Denn viele denken sich, wenn jemand im Bundestag so etwas sagt, wenn jemand von einer Partei das sagt, die in manchen Bundesländern 25 Prozent der Stimmen bekommt und fast stärkste Partei ist, wenn die das sagen, dann darf ich das ja wohl auch sagen. Und dass das dann auch an Besucherinnen und Besuchern der Gedenkstätten nicht spurlos vorübergeht, ist alles andere als überraschend.

Glauben Sie, dass wir es tatsächlich mit einer Zunahme rechter Einstellungen zu tun haben? Oder hat es vielleicht immer Menschen gegeben, die so dachten und die sich nur nicht trauten, ihre Gedanken auszusprechen?

Ich glaube, es ist tatsächlich beides. Es hat immer einen gewissen Prozentsatz von Deutschen gegeben, die die NS-Verbrechen geleugnet und verharmlost haben, die klassische Abwehrreflexe gezeigt haben, das hat es immer gegeben. Wir hatten vielleicht eine Phase von zwanzig Jahren, von Mitte der Neunziger bis Mitte der 2010er Jahre, in denen ein großer Teil der deutschen Bevölkerung die NS-Verbrechen nicht nur nicht geleugnet, sondern sich aktiv kritisch damit auseinandergesetzt hat. Eine Phase, in der es auch im politischen Betrieb der Bundesrepublik common sense geworden ist, dass die NS-Verbrechen die Menschheitsverbrechen schlechthin gewesen sind und dass die Auseinandersetzung mit den Verbrechen grundlegend ist für unsere demokratische Selbstverständigung. Und dieser Konsens scheint mir im Augenblick zu bröckeln. Er wird jedenfalls von rechts und im Wesentlichen aus den Reihen der AfD, aber auch aus den Reihen anderer rechtsextremer Parteien offen angegriffen. Und das führt dann sicherlich dazu, dass viele, die vielleicht vorher schon so gedacht haben, sich jetzt berufen fühlen, solche Dinge dann auch offen zu sagen, die sie vorher vielleicht eher verschwiegen hätten.

Wie gehen Sie damit um, wenn es in der Gedenkstätte Bergen-Belsen zu geschichtsrevisionistischen Provokationen kommt?

Wir versuchen, die Besucherinnen und Besucher bei dem Wissensstand abzuholen, mit dem sie ankommen, und dann gewissermaßen in Richtung einer wirklich kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Anführungsstrichen zu lenken. Denn unser Ziel ist es, in der Gesellschaft historisches Urteilsvermögen zu stärken und letzten Endes dazu beizutragen, dass unsere Gesellschaft ein reflektiertes historisches Bewusstsein hat, weil wir der Meinung sind, dass nur mit einem reflektierten historischen Bewusstsein eine Demokratie funktionieren kann. Wenn aber jemand mit Verve und absoluter Überzeugung Legenden und Behauptungen gegen unser gesichertes Wissen vorbringt, dann wird man diese Person in den seltensten Fällen tatsächlich vom Gegenteil überzeugen können. Für uns ist es entscheidend, dass diese Leute, die mit solchen, den Holocaust verharmlosenden Provokationen in die Gedenkstätte kommen, hier nicht in der Gruppe Einfluss nehmen auf die anderen, die wir noch erreichen können. Deswegen ist es auch gut, sich bisweilen argumentativ auf solche Diskussionen einzulassen. Allerdings muss dann an der Stelle spätestens Schluss sein, wo diese Provokationen strafbar werden, wo Volksverhetzung betrieben wird, wo Holocaustleugnung betrieben wird. Aber uns ist es wichtig, diejenigen zu erreichen, die tatsächlich mit dem Wunsch hierherkommen, sich intensiv mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Vor allem, wenn die vorher vielleicht mit einer gewissen Abwehrhaltung und vielleicht auch mit einer gewissen Aufgeschlossenheit gegenüber Theorien, die den Nationalsozialismus verharmlosen, hierherkommen. Wenn wir sie dann hier davon überzeugen können, oder besser wenn aufgrund der Quellen, die wir ihnen präsentieren, sie sich selbst davon überzeugen, dass es anders gewesen ist, dann ist unsere Arbeit erfolgreich. Aber die hartnäckigen Leugner werden wir nicht erreichen können.

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