Offener Brief an die Bundesregierung:

HVD Bundesverband verurteilt Gewalt gegen friedliche Proteste in Polen

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Gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts in Polen wurde bereits im Oktober 2016 (u. a. auch in Berlin) protestiert.
Demonstration in Berlin 2016

In einem Offenen Brief wendet sich der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) gemeinsam mit anderen Organisationen an die Bundesregierung, um auf die sich verschlechternde Situation der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte in Polen aufmerksam zu machen.

Am 22. Oktober hatte das polnische Verfassungsgericht, das unter Befangenheitsverdacht steht, eine Verschärfung des Abtreibungsrechts beschlossen und Schwangerschaftsabbrüche de facto verboten.

"Die polnische Regierung entrechtet und entmündigt Frauen in einem existenziell wichtigen Lebensbereich und lässt sie dann mit den oft schwer oder gar nicht bewältigbaren gesundheitlichen, psychosozialen und finanziellen Problemen alleine, die aus dem Zwang zum Austragen von Schwangerschaften entstehen", sagte Hedwig Toth-Schmitz, Vorstand des HVD Bundesverbandes. Und Vorstandssprecher Erwin Kress erklärte: "Es ist der Stil eines autoritären Regimes, wenn eine demokratische Meinungsbildung verhindert wird und Rechte von Minderheiten durch billige Tricks außer Kraft gesetzt werden. Der Humanistische Verband Deutschlands verurteilt ein solches Vorgehen scharf und stellt sich auf die Seite der wirklich demokratischen Kräfte in unserem Nachbarland."

In den Folgetagen nach der Entscheidung gingen Zehntausende Menschen in Polen auf die Straße. Gegen die Demonstrierenden wurde und wird von Polizei und rechtsextremen Gruppen jedoch mit übermäßiger Gewalt vorgegangen. Wir verurteilen diese unverhältnismäßige Gewaltanwendung und sind besorgt über die sich verschlechternde Situation der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte im Land. Gemeinsam mit anderen Organisationen haben wir uns daher in einem Offenen Brief an die Bundesregierung gewendet:

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel,
sehr geehrter Herr Außenminister Heiko Maas,

die unterzeichnenden Verbände und Einzelpersonen wenden sich an Sie, um Sie auf unsere tiefe Besorgnis über die Entwicklungen in Polen aufmerksam zu machen. Es geht um die Anwendung übermäßiger Gewalt bei friedlichen Protesten gegen die sich verschlechternde Situation der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte im Land.

Am 22. Oktober 2020 entschied der polnische Verfassungsgerichtshof, dass der Zugang zum Schwangerschaftsabbruch bei "schweren und irreversiblen fötalen Defekten oder unheilbaren Krankheiten, die das Leben des Fötus bedrohen" verfassungswidrig ist. Diese rechtswidrige und rückschrittliche Entscheidung schränkt die sexuelle und reproduktive Gesundheit und die Rechte der Frauen noch stärker ein und läuft auf ein fast vollständiges Verbot des legalen Zugangs zum Schwangerschaftsabbruch im Land hinaus. Für die Frauen und ihre Familien bedeutet diese Entscheidung, dass sie gezwungen sind, Schwangerschaften gegen ihren Willen auch in Fällen schwerster fötaler Schädigungen fortzusetzen – oder ins Ausland zu reisen, wenn sie die finanziellen Mittel dafür haben. Diese Entscheidung wird das Leiden der Frauen, die sich bereits in einer sehr schwierigen Situation befinden, unnötig vergrößern. Das Urteil verstößt zudem gegen die internationalen Menschenrechtsverpflichtungen Polens. Die Regierung hatte im Vorfeld Maßnahmen ergriffen, die die Unabhängigkeit der Justiz und die Rechtsstaatlichkeit in Polen untergraben. Die EU und andere Institutionen haben daraufhin die Legitimität des Verfassungsgerichtshofs in Frage gestellt.

Nach der Entscheidung sind Zehntausende von Menschen auf die Straße gegangen, um ihre Unzufriedenheit mit der polnischen Regierung unter der Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) zum Ausdruck zu bringen. Die Proteste haben sich über ganz Polen ausgebreitet und laufen seit sieben Tagen. Die Proteste, die ursprünglich von Frauenrechtsgruppen wie Strajk Kobiet (Frauenstreik) angeführt wurden, werden heute von einer Vielzahl von Gruppen der polnischen Bevölkerung, darunter Bergarbeiter*innen, Taxifahrer*innen, Landwirt*innen und Gewerkschaften, weitgehend unterstützt.

Wir sind besorgt darüber, dass diese friedlichen Proteste von Polizei und rechtsextremen Gruppen, die der Regierungspartei nahe stehen, mit übermäßiger Gewalt beantwortet werden. Von Aktivist*innen und Journalist*innen dokumentiertes Filmmaterial zeigt, wie die Polizei Tränengas und Pfefferspray einsetzt und Protestierende körperlich angreift. Aktivist*innen haben bisher 17 Festnahmen dokumentiert, möglicherweise sind es viel mehr. In Warschau gab ein Pfarrer rechtsextremen Aktivist*innen die Erlaubnis, seine Kirche vor den Demonstrant*innen zu verteidigen, und sie begannen daraufhin, Frauen mit physischer Gewalt aus dem Gebäude zu entfernen. Die Aktionen rechtsextremer Gruppen sind besonders beunruhigend, da sie oft ungestraft handeln können, was in krassem Gegensatz zu den repressiven Maßnahmen der Behörden gegen Menschenrechtsverteidiger steht.

Die Anwendung exzessiver Gewalt durch Strafverfolgungsbeamte und ihr Versagen, friedliche Demonstranten vor Gewalt durch andere Zivilist*innen zu schützen, stehen im Widerspruch zu den Standards, die in den internationalen Menschenrechtsnormen und der EU-Charta der Grundrechte festgelegt sind, die das Recht auf friedliche Versammlung garantieren. Es ist inakzeptabel, dass die polnische Regierung COVID-19 als Vorwand benutzt, um friedliche Proteste zu unterdrücken.

Diese Angriffe finden vor dem Hintergrund rapide schrumpfender bürgerlicher Rechte in Polen statt, was die Aushöhlung der Medienfreiheit und der Unabhängigkeit der Justiz sowie ein hartes Vorgehen gegen LGBTI- und Menschenrechtsaktivisten und –verbände einschließt. Bald könnte auch das Recht der Frauen auf Schutz vor häuslicher Gewalt durch eine bevorstehende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs bedroht sein, mit der die Istanbuler Konvention für verfassungswidrig erklärt werden könnte.

Wir rufen Sie auf, gegen die Anwendung übermäßiger Gewalt und Gewalttätigkeit gegen friedliche Demonstranten zu protestieren. Bitte verurteilen Sie Angriffe und Gewalt durch nichtstaatliche Akteur*innen einschließlich rechtsextremer Gruppen und setzen Sie sich dafür ein, dass diejenigen, die die Demonstrant*innen angreifen, zur Rechenschaft gezogen werden.

Unterzeichner*innen:

AWO Bundesverband e.V.

Familienplanungszentrum BALANCE, Berlin

Humanistischer Verband Deutschlands – Bundesverband

Heidi Meinzolt, Mitglied im Internationalen Vorstand der Women's International League for Peace and Freedom (WILPF) für Europa

pro familia Bundesverband

Beate Ziegler

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