Die Präsidenten- und Parlamentswahl in der Türkei zeigen deutlich, dass eine Mehrheit der Menschen dort nach wie vor auf rechts-reaktionäre Kräfte setzt und selbst im Angesicht des wirtschaftlichen Verfalls einem Ideologen ihr Vertrauen schenkt, der das Land zusehends in ein totalitäres Regime umbaut.
Am 14. Mai 2023 wurden in der Türkei der künftige Staatspräsident und Chef der neuen Regierung sowie ein neues Parlament gewählt. Dabei formierte der bisherige Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, mit seiner islamistischen Partei AKP und zwei Parteien der rechtsradikalen Grauen Wölfe-Bewegung, MHP und BBP, eine Allianz aus islamistischen und nationalistischen Kräften. Unterstützung erhielten sie dabei durch die islamistische Partei Yeniden Refah und den legalen Arm der kurdisch-islamistischen Hisbollah (Hüda-Par).
Dem gegenüber standen mit der kemalistischen Partei CHP und einem 6er-Bündnis, das sich unter anderem aus der nationalistischen İyi Parti und der Millî-Görüş-Partei Saadet zusammensetzte, eine ebenso rechte wie reaktionäre Allianz. Gerade solche Konstellationen zeigen deutlich, wie rechts die Parteienlandschaft in der Türkei seit jeher geprägt ist. Dass die Grüne Linkspartei (YSP), die als Dachpartei für die vom Parteiverbot bedrohte HDP fungiert und sich besonders für die Minderheiten in der Türkei einsetzt, auf einen eigenen Kandidaten verzichtete und die Allianz des Vorsitzenden der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, unterstützte, ist dabei schlichtweg als Entscheidung für das kleinere Übel zu verstehen.
Keine Mehrheit im ersten Wahlgang
Da weder Erdoğan noch Kılıçdaroğlu beim ersten Wahlgang eine eindeutige Mehrheit erhielten, kam es am 28. Mai zu einer Stichwahl, aus der Erdoğan mit 51,91 Prozent der Stimmen gegenüber den 48,09 Prozent seines Herausforderers als Sieger hervorging. Eine historische Zeit, denn erstmals in der Geschichte der Türkei erforderte es eine Stichwahl um das Präsidentenamt, wobei Erdoğan nun als erster Politiker des Landes 25 Jahre an der Macht sein wird. Eine Zeit, die insbesondere in den letzten 10 Jahren durch eine systematische Diskriminierung und Verfolgung oppositioneller Kräfte geprägt ist. Zuletzt verurteilte ein Gericht im Dezember 2022 den wohl größten Konkurrenten Erdoğans, den CHP-Politiker Ekrem İmamoğlu, zu einem Politikverbot wegen einer angeblichen "Beleidigung der türkischen Wahlbehörde". Wie auch andere Verfahren gegen oppositionelle Kräfte wurde dieses Urteil von Beobachter:innen als "politisch motiviert" eingestuft.
Noch drastischer traf es unter anderem den ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş, der bereits 2016 wegen "Terrorpropaganda" verhaftet wurde und seitdem im Gefängnis sitzt. Dass dies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte freilich anders sieht und seit 2020 die Freilassung Demirtaş fordert, setzt die Regierenden in Ankara scheinbar wenig unter Druck.
Faire Wahlen sehen anders aus
Auch in diesem Jahr ließ Erdoğan nichts unversucht, um die großen Medienanstalten, die weitestgehend durch ihn kontrolliert werden, für den Wahlkampf in Stellung zu bringen. So erhielten er und sein Verbündeter Devlet Bahçeli von der MHP mit 76 Stunden "praktisch unbegrenzte Sendezeit im Staatsfernsehen TRT", während sich der Herausforderer Kılıçdaroğlu mit 32 Minuten begnügen musste. Hier sollte klar sein, dass in der Türkei weder Pressefreiheit noch eine Trennung der Gewalten herrschen. Systematisch werden Andersdenkende und oppositionelle Kräfte durch die Regierung eingeschüchtert oder inhaftiert. In diesem Kontext von freien oder fairen Wahlen zu sprechen, gleicht einem Treppenwitz, auf den Stufen eines Regimes, das die Demokratie immer schon nur als "Zug verstand, auf den man aufspringt, bis man sein Ziel erreicht hat". Ein Satz, den Erdoğan bereits 1999 propagierte.
Nationalismus in Reihen der Opposition
Auch die kemalistische CHP, die seit 1923 auf dem Fundament eines aggressiven Nationalismus steht, zeigte im Wahlkampf, warum gerade Minderheiten in der Türkei wenig Fortschritt vom Ausgang der Wahlen erwarten konnten. So verkündete Kemal Kılıçdaroğlu, dass er alle Flüchtlinge "nach Hause schicken" werde, sobald er an die Regierung komme. Keine Besonderheit in einer Partei, die seit der Staatsgründung maßgeblich den antikurdischen Rassismus auf Staatsebene befeuerte und auch in den letzten Jahren die völkerrechtswidrigen Invasionen in kurdischen Autonomiegebieten unterstützte. So unversöhnlich sich Regierende und Opposition gegenüberstehen, im Umgang mit vor allem links-geprägten Kurd:innen vertreten islamistische wie auch nationalistische Kräfte in der Türkei die gleichen Ressentiments. Umso perfider scheint es, dass die CHP sich gerade von der kurdisch geprägten HDP unterstützen ließ, die auch bei diesen Wahlen die Entscheidung zwischen der ideologischen "Pest und Cholera" hatte.
Die Zahlen sprechen für sich
Neben der ideologischen Einordung der einzelnen Parteien und Bewegungen, sprechen die Zahlen am Ende des Tages eine eindeutige Sprache. Von 64.113.941 Wahlberechtigten nahmen knapp 57 Millionen Türk:innen an den Wahlen teil. Eine im Vergleich zu deutschen Verhältnissen beinahe "astronomische" Zahl. Dabei wurde klar, dass Erdoğan seit der letzten Wahl Stimmverluste von ca. 3,34 Prozent verzeichnen musste. Vor allem in den kurdischen Wahlbezirken wurde Herausforderer Kılıçdaroğlu mit großer Mehrheit gewählt. Gleichzeitig zeigte sich, dass zwei Drittel der türkischen Gesellschaft reaktionär und nationalistisch wählen. Bei der Parlamentswahl erreichte die AKP 35,56 Prozent. Ihr Verbündeter, die MHP, 10,04 Prozent. Selbst in den Gebieten, die ein Erdbeben im Februar schwer zerstörte, wurden die AKP und MHP mehrheitlich gewählt. Weder der wirtschaftliche Verfall noch die hohen Inflationsraten sowie etliche Korruptionsskandale konnten dies verhindern. Gerade hier wird ersichtlich, dass das Regime bedeutende Teile seiner Bevölkerung vor allem mit Propaganda statt rationalen Fakten erreicht. Eine Entwicklung, die aus totalitären Regimen bekannt ist. Währenddessen konnte die CHP ihren Stimmenanteil um 2,98 Prozent auf 25,63 Prozent erhöhen und wurde vor allem im Westen des Landes entlang der Mittelmeerregion gewählt. Gereicht hat dies nicht, auch deshalb nicht, weil Erdoğan und die AKP wieder einmal Rückdeckung von großen Teilen der wählenden Türk:innen in Deutschland bekamen.
Mehrheit der wählenden Türk:innen in der BRD unterstützen die AKP
Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 50 Prozent, stimmten 67 Prozent der Menschen für Erdogan – also knapp 500.000. Diesen Zahlen waren etliche Auftritte von AKP-Politikern in Moscheen des islamischen Dachverbandes DITIB vorausgegangen, wobei der Journalist Eren Güvercin Ende April feststellte, dass "seit September 2022 weit über 100 AKP-Politiker in den staatlich kontrollierten DITIB-Gemeinden einen massiven Wahlkampf geführt" hätten. Eine Feststellung, die den eigenen Verlautbarungen der DITIB, die sich als politisch unabhängig beschreibt, mehr als nur widerspricht. Deutlich wurde hier, dass der islamische Verband jederzeit aus Ankara zur Fahne gerufen werden kann und de facto auch wird, wenn es darum geht, entscheidende Stimmen für den Machterhalt des islamistisch-nationalistischen Regimes zu sichern. Somit sollte klar sein, dass die Entwicklungen in der Türkei untrennbar mit den Entwicklungen in Deutschland verknüpft sind. Welche Konsequenzen die Wahlen haben, zeigt bereits jetzt ein Foto, auf dem Erdoğan sich Hand in Hand mit seinen islamistischen und rechtsradikalen Verbündeten als unangefochtener Sieger präsentiert. Eine Allianz, die wohl auch die letzten demokratischen Elemente in der Türkei beseitigen und dem Totalitarismus den Weg ebnen wird.