Gesetz zu Demenzstudien

Kampf um uneigennützige verwirrte Senioren

alter_mann.jpg

Sang- und klanglos wollten Gesundheitsminister Hermann Gröhe und Forschungsministerin Johanna Wanka sogenannte gruppen- bzw. rein fremdnützige Forschung an Demenzkranken zukünftig erlauben. Unter der Bedingung, dass die Betroffenen in einer vorsorglichen Verfügung zugestimmt haben. Jahre vorher, ohne wissen, welche Eingriffe dann überhaupt damit verbunden sein werden. Doch die Initiatoren und Befürworter der Neuregelung sind massiv in die Defensive geraten. Die für Juli geplante Abstimmung wurde auf den Herbst verschoben. Es müssen bohrende Fragen beantwortet werden.

Es beginnt mit einem Skandal und politischem Eklat im Vorfeld der Gesetzesnovelle. Diese betrifft eigentlich ganz unspektakulär arzneimittelrechtlichen und andere Vorschriften (AMG), wobei es etwa um Heilmittelwerbung oder Medikamentenchargen geht. Die brisante Änderung bestand dann lediglich aus einem Satz. Gröhe und Wanka hielten es nicht für erforderlich, die Abgeordneten darüber zu informieren, dass in die AMG-Neufassung noch ein solcher zur Forschung an Demenzkranken eingefügt worden war. Die Bundesregierung wollte die neue Möglichkeit für Arzneimitteltests so reibungs- und geräuschlos wie möglich durch das Parlament bringen. Nicht ohne Grund, denn es musste klar sein, dass eine losgetretene Debatte über medizinische Tests an Hilflosen erhebliche Widerstände und Verzögerungen mit sich bringen würde.

Später Aufschrei

Der Aufschrei kam dann auch – von den Kirchen und Behindertenverbänden und zuletzt von immer mehr Parlamentarier/innen. Sie haben die Absicht der schwarz-roten Regierung im Frühsommer aufgegriffen, scharf kritisiert und erst öffentlich bekannt gemacht.

10 Jahre hpd

Bisher war es in Deutschland absoluter Konsens vor allem auf Grund der menschenverachtenden medizinischen Experimente der Nazizeit. Und es war noch 2013 im Bundestag einstimmig beschlossen worden: Bei Fragen rund um die medizinische Forschung an Patienten haben höchste Schutzstandards zu gelten. Konkret geht es jetzt um eine neue Konstellation, die als eine "gruppennützige klinische Prüfung an nicht-einwilligungsfähigen Erwachsenen" bezeichnet wird. Bisher ist in Deutschland die klinische Forschung an Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen allenfalls dann erlaubt, wenn die Probanden selbst unmittelbar einen Nutzen davon haben können. Nun aber geht man von gruppennützigen Forschung aus. Das heißt, dass klinische Prüfungen nicht dem teilnehmenden Patienten, sondern der Gruppe derjenigen, die auch an dem Grundleiden erkrankt sind, nutzen sollen – und zwar später einmal.

Die EU-Kommission hatte Deutschland ausdrücklich eingeräumt, dass hierzulande die Schutzstandards höher sein dürfen als das in anderen EU-Ländern der Fall ist. Gesundheitsminister Gröhe (CDU) wollte es zunächst auch bei der geltenden Gesetzeslage belassen. Doch auf Intervention von Forschungsministerin Wanka (CDU) ist es nun ausgerechnet er, der ohne Not eine Aufweichung der Schutzstandards bei Einwilligungsunfähigen gegen massiven kirchlichen Widerstand voran treiben will. Dabei machen Gröhe, Wanka und parlamentarische Unterstützer wie z.B. Karl Lauterbach (SPD) geltend, dass die Einwilligung der Betreffenden in Form einer besonderen Patientenverfügung vorliegen müsse, solange sie noch voll willensfähig sind.

Läuft die Kritik der Kirchen wieder ins Leere?

Der katholische Ethiker Prof. Andreas Lob-Hüdepohl hält eine solche Vorausverfügung hingegen für eine Illusion, wie er bei einer jüngsten Anhörung ausführte. Denn wesentliche Einzelheiten der Forschung seien zum Zeitpunkt der Abfassung nicht bekannt und als Gesunder könne man sich eh nicht in den späteren Bewusstseinszustand eines Demenzkranken hineinversetzen. Es bestehe die Gefahr, dass wehrlose und vulnerable Menschen zum Zwecke anderer instrumentalisiert und ihrer Würde im kantschen Sinne damit beraubt werden. Kritiker der Novelle befürchten zudem, dass die Lockerung für nicht-eigennützige Arztneimitteltests an Einwilligungsunfähigen nur ein Türöffner wäre für eine ethisch nicht mehr zu bremsende, aus dem Ruder laufende Forschung am Menschen.

Nun sind Lebensschutz- und Dammbruchargumente der Gegner von Suizidhilfe und von Patientenverfügungen für den Demenzfall allzu gekannt. In der Regel laufen sie ins Leere. Aber hier verhält es sich anders und sie haben weitgehend Recht mit ihrer Kritik der Sache selbst. Bei einer Berliner Veranstaltung des Humanistischen Verbandes im September 2016 wurde zudem deutlich, dass für die Einwilligung zur Teilnahme an fremdnütziger Forschung die Patientenverfügung sicher nicht das richtige Instrument ist. Schon die Festlegungen zum Behandlungsverzicht bei einer Alzheimer-Erkrankung stoßen auf Schwierigkeiten und sind nur durch umfassenden Aufklärung und Reflexion verbindlich zu gewährleisten.

Instrumentalisierung der vorsorglichen Selbstbestimmung

Im Vorfeld kann niemand die zukünftigen Patienten darüber aufklären, worum es bei dann ja erst noch zu planenden Tests gehen wird. Die Forschung steht noch ganz am Anfang. Sollen Tabletten verabreicht, Blut abgenommen, Spritzen gesetzt oder Computertomographie durchgeführt werden - gar mit dann später nötiger Fixierung? Wie lange soll das Ganze gehen müssen, mit welchen Risiken und Nebenwirkungen ist zu rechnen?

Es wird deutlich – allerdings anders als die Kirchen vorgeben -, eine Instrumentalisierung des vorsorglich ausgeübten Selbstbestimmungsrechtes vorliegt: Staatlicherseits je nach dem, ob die Intention der Selbstbestimmung genehm und umworben ist oder ob sie umgekehrt als unerwünscht gilt. Dabei schützt eine Patientenverfügung, die auch den Demenzfall einbezieht, u.a. vor um sich greifende Übertherapie und sinnlosen Eingriffen im Bereich der Intensivmedizin, die vom Betroffenen als qualvoll erlebt werden. Ganz anders verhält es sich im Fall der Zustimmung zu Forschungseingriffen. Die Gemeinsamkeit besteht nur darin, dass ebenfalls bis zum Zeitpunkt ihrer Geltendmachung viele Jahre vergehen können (genau wie es auch für eine – unerwünschte – Patientenverfügung mit Sterbewunsch bei Demenz gilt und auf der anderen Seite für die – genehme, umworbene – Zustimmung zur Organspende).

Sicher werden sich kaum Menschen finden lassen, die hier ihre vorsorgliche Zustimmung zu Experimenten mit ihnen erteilen. Mit gutem Grund, denn es besteht die Gefahr, dass sie damit in Situationen kommen, wie sie es auch bei klarem Verstand niemals gewollt hätten. Insofern ist den Kritikern der Gesetzesnovelle Recht zu geben.

Zweierlei Maß bei freiwilligem und altruistischem Verzicht

Doch die Befürworter sehen es anders. Als anerkennenswertes altruistische Motiv soll der freiwillige Verzicht auf den Schutz vor fremdnütziger Forschung gelten - ebenso wie man ja von einer Organspende selbst nicht profitiert, sondern dafür den Verzicht auf ein friedliches Sterben in Kauf nimmt. Als verwerflich gilt hingegen der freiwillige Verzicht etwa auf Nahrung und auch Flüssigkeit in suizidaler Absicht – zumindest darf die Gelegenheit dazu laut § 217 StGB nicht mehr verschafft oder gewährt werden bei bis zu dreijähriger Strafandrohung.

Auch soll niemand erklären, bei intensiver Dauerpflegebedürftigkeit oder schwerer Demenz seinen Angehörigen nicht mehr zur Last fallen zu wollen. Dann wird er automatisch zum Paradebeispiel dafür, dass ein Druck zur Selbstentsorgung in unserer gottlos-amoralischen Gesellschaft ausgeübt wird, dem unbedingt mit Verboten entgegenzuwirken ist. Selbstverständlich dürfen in einer werteorientierten Zivilgesellschaft nicht zu hohe Kosten für eine Entscheidung zum Tod ausschlaggebend sein. Aber was ist, wenn jemand gut informiert verfügt: "Ich möchte auch nicht, dass meine Kinder in Armut leben und unser Eigenheim als Erbe verlorengeht, weil man mich jahrelang bei aussichtsloser Prognose gegen meinen Willen intensivpflegt. Realistischerweise liegen die Kosten bei 5.500 Euro im Monat, wobei eine monatliche zu zahlende Lücke von über 3.000 Euro übrig bleibt." Dieser Altruismus gilt als verwerflich. So soll man in einer religiös geprägten, fürsorglichen Gesellschaft erst gar nicht denken dürfen – schon wird der böse Pauschalverdacht von geldgierigen Familenangehörigen und einem nur noch egoistischen Umfeld genährt, wovor die hilflosen Betroffenen staatlicherseits zu schützen seien.

Diese Überlegungen gehen in der Gesetzesdebatte vermutlich zu weit und zu tief. Im Parlament wird man allerdings fragen müssen, ob und in wessen Interesse die umstrittene Forschung nötig sei und mit welchem überragenden Nutzen für das Gemeinwohl sich die Aufweichung für Einwilligungsunfähige rechtfertigen läßt.

Was sagt die Forschung – eine völlig unnötige Gesetzesnovelle?

Wissenschaftler wie der Frankfurter Gerontologe und Demenzforscher Johannes Pantel sehen gar keine Notwendigkeit für eine Gesetzesänderung. Durch eine Beibehaltung des aktuellen Schutzniveaus werde die Forschung nicht behindert oder gar verhindert. In einem Interview mit der Ärzte Zeitung vom 17.10.2016 führt Prof. Pantel aus: Er kann sich keine entsprechende klinische Studie vorstellen, die zu wesentlichen Fortschritten führt und ausschließlich mit einer solchen Gesetzesänderung möglich wäre. An Studien z. B. mit Mitteln gegen Amyloidablagerungen im Gehirn eines Alzheimerpatienten könnten jene im fortgeschrittenen Stadium zwar tatsächlich nicht teilnehmen – aber das wäre auch gar nicht nötig. Sie kämen bei dieser Arzneimittelforschung eh kaum in Frage, denn – so Pantel – niemand glaube, dass bei einem schon sehr schwer geschädigten Gehirn noch Regenerationsprozesse in Gang kommen. "Die Musik spielt hier bei Patienten mit leichter Demenz oder solchen mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen. Und diese Forschung ist mit den geltenden Vorschriften problemlos möglich", führt Pantel aus.

Universitätsstudien ohne Sinn und Nutzen?

Anders als man es von dieser Lobby meinen könnte, zeigt sich die pharmazeutische Industrie nicht an der Gesetzesänderung interessiert. Denn sie führt fast nur Studien an Patienten in leichten Stadien oder mit Prädemenz durch. Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (VfA) ließ jedenfalls mitteilen, dass die Konzerne "für ihre Entwicklungsarbeit keine Gesetzesänderung" benötigten. Wer sich nichtsdestotrotz für den umstrittenen Passus in der AMG-Novelle stark macht, sind akademische Verbände wie der Medizinische Fakultätentag und der Verband der Universitätsklinika Deutschlands. Sie weisen – wie Forschungsministerin Wanke - auf die Gefahr hin, die entsprechende Forschung könne ansonsten in Deutschland ins Hintertreffen geraten. Diese sei, so betonte etwa die Berliner Charité, "zwingend erforderlich".

Der Zufall will es, dass in der Ärztezeitung vom 17.10. mit dem Interview mit Pantel unabhängig davon ein anderes Problem darstellt wird unter der Überschrift: "Weshalb Universitäten so viele klinische Studien in den Sand setzen - vergeudete Ressourcen, verbrannte Idee". Als Erklärung wird angeführt: "Ein lausiges Design mit zu kurzer Dauer und zu wenigen Patienten – diese Kombination findet man nicht selten bei Uni-Studien. Kein Wunder, dass die Resultate oft nicht zu gebrauchen sind. Schade um Geld und Hirnschmalz." Als Beispiel wird eine sog. Multicenterstudie mit einem vielversprechenden Ansatz anführt: Untersucht werden sollte, ob mit einer relativ simplen Therapie der Krankheitsverlauf (Nervenschädigung) bei fortschreitender Multipler Sklerose (MS) gebremst werden kann. Im Beitrag der Ärztezeitung heißt es dann: "Um die Frage zu klären, starteten die Forscher eine zweijährige Studie mit sage und schreibe 150 Patienten. Jeder MS-Experte müsste bei diesem Design die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Viele eigentlich gute Ideen werden durch schlecht gemachte Studien zu Nichte gemacht." Ob das erprobte Mittel nur zufällig etwas besser war als das Placebo, musste nämlich aufgrund nicht erreichter statistische Signifikanz wissenschaftlich unbeantwortet bleiben.

Beim Kampf um mehr Probanten alle Mittel recht?

Es besteht also für die Forschung ein bedrohlicher Mangel an Probanden. Für eine vernünftige Studie braucht es aber eine große Zahl. Schon nach geltendem Recht - mit positiven Auswirkungen auch für Studienteilnehmer/innen selbst - ist es schwierig, solche zu gewinnen. Zumal auch Angehörigen diese verständlicherweise schützen wollen und bohrende Fragen gestellt werden. Wie aber sieht Pantel das Problem, welches sich ihm doch auch bei bereits leicht Dementen oder geistig eingeschränkten Patienten stellen dürfte. Pantel räumt ein, dass auch "seine" nur leicht Demenzkranken mit einer Aufklärung, wie sie üblicherweise für Studien erfolgt, natürlich schnell überfordert sind und dann als nicht einwilligungsfähig gelten. Es fällt ja schon Patienten ohne geistige Einschränkung schwer, die umfangreichen Informationen in komplizierte Sprache zu verstehen. Doch da scheint Pantel seine eigene Methode zur ärztlichen Aufklärung entwickelt zu haben: Durch bestimmte Maßnahmen, so der Demenzforscher, lasse "sich jedoch auch bei Demenzkranken noch eine informierte Einwilligung erzielen. Unsere Arbeitsgruppe ist an einem europäischen Forschungsprojekt beteiligt, bei dem es um die Entwicklung und Bewertung von solchen Methoden geht. Wir sprechen hier von enhanced consent procedures".

Durch Ausschöpfen noch vorhandener Ressourcen würde es dabei auch Demenzkranken ermöglicht, selbstbestimmt einzuwilligen. Ach so - wie gut und beruhigend, dass dabei ein subtiles Druckausüben oder fremdnütziges Beeinflussen, wie es bei der Förderung zur Suizidhilfe staatlicherseits unterstellt und bestraft wird, ausgeschlossen ist. Oder sollte am Ende der Ansatz der SPD-Politikerin Hilde Mattheis der redlichere oder zumindest aufrichtigere sein? Sie verneint, dass die Einwilligung für eine gruppennützige Forschung nur dann gegeben werden könnte, wenn eine ärztlicher Aufklärung vorausgegangen ist.

Fazit: Bohrende Fragen

Die Kernfragen lauten: Um welche Art von Medikamentenstudien kann es sich eigentlich handeln, die gar keinen, also offenbar auch keinen nur potentiellen Nutzen unmittelbar für die Probanten haben? Wessen finanzielle Interessen sind im Spiel? Wie kann verhindert werden, dass es sich um Forschung um ihrer selbst willen handelt, nur im Universitäts- und Karriereinteresse, zudem unter "lausigen" Bedingungen ohne Aussicht auf Nutzwert? Und wieso sollten Menschen uneigennütziges Teilnahmeverhalten zeigen, wenn ihnen auf der anderen Seite beim selbstbestimmten Sterben jeder Altruismus als verwerflich angekreidet wird? Und wenn sie sogar mittels Strafrecht vor einer angeblich aufgenötigten Inanspruchnahme von gewünschter Suizidhilfe geschützt werden?